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Takt ohne Gnade

Von Klaus Buttinger, 04. Juli 2020, 00:04 Uhr
Takt ohne Gnade
Bild: Volker Weihbold

Erst in Zeiten des Umbruchs erschließt sich, wie wichtig die Lebensrhythmen sind. Mensch, Natur, die Welt – alle ticken nach einer inneren Uhr, die sich nicht verstellen lässt.

Rhythmus – das hatte immer etwas leicht Bedrohliches: Wer schreiben lernt, fürchtet das Wort im Diktat, wer ein Instrument beherrschen will, kommt um seine Unerbittlichkeit nicht herum, und wer dem industriellen Arbeitsrhythmus unterliegt, dem gibt die Stechuhr den Takt vor. Allein die Zeiten, in denen "die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt", wie die Band Geier Sturzflug in ihrem Lied "Bruttosozialprodukt" aus 1983 sang, sind längst vorbei. Heute wird das Ein- und Ausstechen von stummen, digitalen Apparaten übernommen, oder man trägt gleich selbst die Arbeitsstunden in ein Computerprogramm ein. Meist flexibilitätsbeseelt nicht eben zulasten der Arbeitgeber, was zum Paradoxon führt, dass heute die Gewerkschaften, die einstigen Kritiker der Stechuhr, ihre Relevanz betonen. Wobei grundsätzlich höhere Instanzen die Uhr für uns stellen.

Der Rhythmus, mit dem man nicht mehr mit muss

Weder die teure IWC oder Panerai am Handgelenk noch die billige Casio informieren darüber, wie spät es wirklich ist. Das sind bloß Minutenzähler verglichen zur inneren Uhr, die das größtmögliche Pendel nutzt: die Erde selbst, mit ihrer täglichen Umdrehung von 24 Stunden.

Wer sich mit dem Rhythmus, mit dem der Mensch mit muss, auseinandersetzt, kommt an jener Uhr nicht vorbei, die in seinem Kopf tickt. Sie ist ein evolutionär uralter Mechanismus, der aber erst seit ein paar Jahren entschlüsselt ist. Den Medizin-Nobelpreis dafür gab es 2017, nämlich für die drei US-Forscher Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young. "Alles Leben auf der Erde ist an die Rotationen unseres Planeten angepasst", hieß es in der Pressemitteilung des Nobelpreiskomitees. Die Entdeckung der drei Forscher erkläre, wie Lebewesen ihr Dasein mit der Drehung der Erde synchronisieren.

Der Rhythmus, mit dem man nicht mehr mit muss
Bild: colourbox.de

Die Uhr in der Fliege

Lehrmeister der Forscher war ein winziges Insekt: Drosophila melanogaster, die Schwarzbäuchige Fruchtfliege. In ihren Zellen fand man ein Protein, das die Fliegen während der Nacht anhäufen und das im Laufe des Tages wieder schwindet. Ähnlich funktioniert auch die innere Uhr des Menschen. Ihre Unruhe und Hemmung – wenn man so will – sitzt über der Kreuzung der Sehnerven im reiskorngroßen, suprachiasmatischen Kern des Gehirns. Er enthält etwa 20.000 selbstoszillierende Neuronen, die selbst bei absoluter Dunkelheit den Tagesrhythmus aufrechterhalten.

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Es ist noch nicht lange her, dass man versuchte, der inneren Uhr des Menschen auf den Grund zu gehen. Im wahrsten Sinn des Wortes tat dies der französische Forscher Michel Siffre. Er zog sich für zwei Monate in eine Höhle 30 Meter unter der Erde zurück und verlor schließlich völlig das Gefühl für Zeit. Das Experiment zeigte, dass er durchschnittlich acht Stunden schlief und 16 Stunden wach war. Er hatte grob einen 24-Stunden- Rhythmus eingehalten. Ähnliches konnte am anderen Ende der Forschungsaktivitäten erkannt werden, im All.

Das Spacelab 1 der NASA hatte 1983 den Schimmelpilz Neurospora mit an Bord, um die circadiane Rhythmik (über 24 Stunden jeweils) außerhalb der Erde zu testen. Zwischen den Pilzen im All und der Kontrollgruppe auf der Erde konnte kein Unterschied festgestellt werden.

Doch der Mensch agiert nur selten wie ein Schwammerl. Sein Dasein wird von mehr als einem simplen On-/Off-Rhythmus gesteuert. Der Tagesrhythmus geht in den Wochenrhythmus über und in den Jahresrhythmus. Es wechseln mehr oder weniger regelmäßig Arbeit oder Tätigkeit mit Ruhe oder Entspannung. Regelmäßige Essenszeiten tun uns gut, ebenso Auszeiten und Feiertage als Gegengift zu Verwertungslogik. Was aber, wenn die Rhythmen durcheinander kommen, wenn sich die erprobten Strukturen ändern? Wenn etwa ein Virus das Konstrukt der Regelmäßigkeit unterminiert?

Rhythmusstörungen

Mediziner, Arbeitspsychologen und Chronoforscher trugen über Jahrzehnte Erkenntnisse zusammen, was es bedeutet, wenn das Gleichgewicht stark in Schräglage gerät. Die ältesten und stichhaltigsten Hinweise, wonach Rhythmusstörungen alles andere als gesund sind, stammen aus der Arbeitsmedizin, die seit langem die Auswirkungen von Schichtarbeit beobachtet. Dies gipfelte 2007 in der Einschätzung des Internationalen Krebsforschungszentrums der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wonach nächtlicher Schichtdienst über Jahre "wahrscheinlich krebserregend” sei. Dahinter dürfte ein Mangel an Melatonin stehen, der das Risiko einer Tumorbildung erhöht. Die Produktion des Hormons im Körper wird bei Licht gehemmt und steigt in der Nacht. Wer in der Nacht im Hellen arbeitet, kann einem Melatoninmangel entgegensteuern und riskiert eine höhere Krankheitsneigung. Mediziner diskutieren Verbindungen zu Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden und verminderter Fruchtbarkeit. Weiters spielt Melatonin in einer vorübergehenden Rhythmusstörung eine Rolle, die fast jeder kennt – den Jetlag.

Jüngste Forschungen zeigten, wie sich Veränderungen des Tagesablaufs auswirken, die coronabedingt auftraten. Schlafforscherin und Psychologin Christine Blume vom Zentrum für Chronobiology der Universität Basel untersuchte an 435 Probanden, überwiegend Frauen, wie sich deren Schlaf während des Covid-19-Lockdowns im April 2020 veränderte. Drei Viertel der Studienteilnehmer, die sich zu 85 Prozent im Homeoffice befanden, schliefen in dieser Phase 50 Minuten pro Tag länger als vor dem Lockdown. Dies hing mit dem Wegfall des Arbeitswegs am Morgen zusammen. Die Schlafqualität verringerte sich hingegen eher, besagt die Studie. Ein Grund dafür sei die coronabedingt angespannte Situation gewesen, die sich in Sorge um Gesundheit und Finanzen sowie im Stress wegen der Kinder niederschlug. In Summe habe sich der "soziale Jetlag" vermindert. Damit meint die Studienautorin die Verschiebung der inneren Uhr gegenüber dem gesellschaftlich verlangten Rhythmus.

Chronotypologie

"Wenn früh am Morgen die Werkssirene dröhnt", heißt es im Lied von Geier Sturzflug. Damit wird ein Bild gezeichnet, das verblasst. Mittlerweile ist bis in die abgehobenste Chefetage durchgedrungen, dass der arbeitende Mensch gerne Gleitzeit nutzt, da er nicht artenrein vorkommt. Er splittet sich vielmehr auf in Lerchen und Eulen, in Menschen, die hinter dem frühen Wurm her sind und in solche, die denen einen Vogel zeigen. Chronobiologen ordnen die Menschen in Chronotypen ein. Man weiß, dass dieser Zeittyp genetisch verankert ist, aber sich im Laufe des Lebens auch ändert. Kleinkinder zählen fast immer zu den Lerchen. Während der Pubertät entwickelt sich der individuelle Chronotyp und bei den meisten "Pubertierenden" eine vorübergehende Eulenphase. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Umerziehen von Chronotypen, wie es das heimische Schulsystem seit jeher versucht, nur sehr beschränkt möglich ist. Vielmehr lebt ein großer Anteil von Schülern wider seine Anlagen. "Schüler und Jugendliche kommen erst spät in Schwung. Der Schulbeginn um acht Uhr erwischt die Schüler in einer Phase, in der sie geistig noch nicht voll aufnahme- und leistungsfähig sind."

Keine zeitlich Annäherung

Eine Verschiebung des Schulbeginns auf eine Stunde später führt nachweislich zu schulischer Leistungsverbesserung und besserem Gesundheitszustand – der Schüler, weniger der Lehrer. Pädagogen stehen in einer anderen Tradition des Zeitregimes. Die Schule musste weiland früh anfangen, damit die Kinder zuhause helfen konnten – und die unterdotierten Lehrer etwas dazuverdienen konnten. Heute ist beides nicht mehr notwendig, und doch nähert man sich zeitlich nicht an. Vielleicht aber ändert sich in der Causa etwas, wenn sich die Lehrergewerkschaft ihrer annimmt und im Sinne des "Bruttosozialprodukts" summt: "Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt …"

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Autor
Klaus Buttinger
Redakteur Magazin
Klaus Buttinger

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