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"... und dann wurde man erschossen"

Von Manfred Wolf   10.März 2018

Es ist kalt. Eiskalt. Minus 15 Grad. Hauben, dicke Winterjacken, feste Schuhe und Handschuhe machen die Temperatur erträglich. Geschichtelehrerin Christine hat ihre Schüler gut darauf vorbereitet. Auf beides. Die Temperaturen und das, womit die 19 Schüler in den nächsten zwei Stunden konfrontiert werden: die Gräueltaten im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen.

Für die Konfrontation ist Martin zuständig. Der Welser ist seit vier Jahren Vermittler. Ruhig und sachlich, ohne Pathos und Emotion erklärt er den Schülern der 4b, wo sie sich gerade befinden, und stellt immer wieder Fragen.

Kleiner hätten sie es sich vorgestellt, das Lager, sagen die Schüler. Und dass es aussehe wie eine Burg, so auf dem Hügel.

"Glaubt ihr", will Martin wissen, "hat die Bevölkerung gewusst, was hier passiert?" Eine Frage, die er noch öfter stellen wird. "Natürlich. Immerhin lebten die SS-Mannen auch in Mauthausen. Lebensmittel und Holz wurden im Ort gekauft. Ankommende Häftlinge mussten vom Bahnhof zum Lager quer durch den Ort marschieren", erklärt Martin. ¨

"... und dann wurde man erschossen"
Der Appellplatz: Abends wurden hier die Häftlinge durchgezählt. Die Toten mussten sie halten.

100.000 Menschen wurden ermordet

200.000 Menschen waren zwischen 1938 und 1945 in Mauthausen und seinen Nebenlagern inhaftiert. Jeder Zweite wurde ermordet. Dafür haben sich die SS-Männer viele Methoden und Spiele einfallen lassen. Von einem Spiel erzählt Martin den Schülern genauer, allerdings ein wenig später, im Warmen, nicht aber, ohne vorher zu fragen, ob sie es noch aushalten in der Kälte.

Ein bedächtiges Nicken unisono, und Martin geht weiter, verweist auf das Lazarett und den Fußballplatz der SS-Mannschaft, die in der "Landesklasse Oberdonau" gespielt hat. Spiele, die auch von Zivilisten besucht wurden. Lazarett und Tribüne sind nicht mehr zu sehen, sie befanden sich vor dem Lager-Eingang. "Nur" durch einen Stacheldraht getrennt. Was Martin erneut auf die Frage bringt: "Glaubt ihr, hat die Bevölkerung davon gewusst?"

Im Lazarett landeten die "Wegesser". So bezeichnete die SS die kranken Häftlinge. 100 Menschen sind hier täglich gestorben. Nachdem sie wochen- und monatelang bis zu 18 Stunden am Tag hart arbeiten mussten. Auch bei Temperaturen wie an diesem Tag – und kälter.

Der Kälte wegen führt Martin die Schüler nur kurz zu einem Zaun, von dem sie die Todesstiege und den Steinbruch sehen können. "Die Häftlinge hatten etwas festere Hosen, ein Hemd, eine Kappe und Holzschlapfen an. Ohne Gummisohle. Nasser Granit ist rutschig. Und wenn es geregnet hat, sind viele Menschen schon auf dem Weg dorthin gestorben."

Martin führt seine Gruppe weiter. In die ehemalige Kommandanturbaracke, zum Aufwärmen, und fragt:

Warum glaubt ihr, mussten die Menschen die Steine herauftragen?

Um das Lager zu bauen?

Ja, aber das war auch einmal fertig. Warum mussten weiter Granitsteine hier heraufgebracht werden?

Um die Häftlinge zu quälen?

Um sie zu quälen! Ermordung durch Arbeit. Man hat die Steine sogar wieder hinuntergebracht. Und jetzt gibt es Menschen, die behaupten, dass das gar nicht passiert ist.

 

Martin holt aus seiner Mappe ein Bild heraus. Es zeigt die Todesstiege und zig Häftlinge, die geordnet Steinblöcke auf Rückentragen nach oben transportieren. Und dann zeigt er ein zweites Bild, eine Zeichnung ... 

 

Die stammt von einem Häftling. Wie unterscheiden sich beide?

Die Häftlinge sehen aus wie Sklaven, weil sie so ausgepeitscht werden.

Auf dem Foto sah alles geordnet aus. Auf der Zeichnung stürmen sie da rauf. Was denkt ihr, welches Bild zeigt die Wahrheit?

Die Zeichnung.

Was steht beim Foto ganz unten?

SS-Archiv.

Genau. Das ist ein gestelltes Foto. Was würde man vermuten, wenn das in der Zeitung wäre, das Foto?

Dass alles in Ordnung ist. Dass sie nicht geschlagen werden.

Genau. Kennt ihr den Begriff Lügenpresse? Den haben die Nationalsozialisten verwendet. Die haben gesagt, die jüdische Presse ist Lügenpresse. Das heißt, diese Zeichnung wäre aus Sicht der Nazis Lügenpresse gewesen. Rechte Gruppen verwenden diesen Begriff jetzt wieder.

Selbst die Existenz von Gaskammern wird immer wieder als Lüge dargestellt. Bevor Martin die Schüler aber dorthin bringt, erklärt er die Regeln des vorhin erwähnten Spiels: "Die SS hat gesagt, dass die Häftlingskleidung Staatseigentum ist und auf den Verlust von Staatseigentum die Todesstrafe steht. Dann haben sie eine Linie gezogen und gesagt, wer diese übertritt, unternimmt einen Fluchtversuch, auf den die Todesstrafe steht. Als nächstes schmiss die SS die Kappe eines der Häftlinge über die Linie ... und dann wurde man erschossen."

Es gab viele Gründe, warum Häftlinge ermordet wurden. Oft hat es gereicht, jemanden zu lange anzusehen. "Es war willkürlich. Man ist immer Gefahr gelaufen, ermordet zu werden", sagt Martin. Einer Landwirtin, die von ihrem Gehöft aus freie Sicht auf den Steinbruch hatte, war dieses Grauen zu viel und sie erstattete Anzeigen, weil sie diese Unmenschlichkeiten nicht ertragen konnte. Nachsatz: Sie sollen unterbleiben oder dort gemacht werden, wo man es nicht sehen könne ...

"... und dann wurde man erschossen"
Wo aus Nummern wieder Namen werden.

Geschoren, geduscht, gedemütigt

"Packt euch gut ein, wir gehen weiter", sagt Martin, und die Gruppe folgt ihm zum Appellplatz, wo er erzählt, wie den Häftlingen – Juden, Homosexuelle, Geistliche, Kriegsgefangene, politische Gefangene, später Frauen und am Ende auch Kinder ... – sämtliche Erinnerungsstücke und ihre Identität genommen und sie zu Nummern wurden.

Sie wurden geschoren, die Schnittwunden mit scharfer Flüssigkeit desinfiziert. Dann ging es ab in die Dusche. Abwechselnd heiß und eiskalt. Wessen Kreislauf zusammenbrach, der galt als arbeitsunfähig und wurde erschossen. Eine Prozedur, die sich alle sechs Wochen wiederholt hat. "300 Menschen, alle nackt, das war demütigender Lageralltag", sagt Martin und zeigt auf eine Wand, auf der Besucher Kommentare eingeritzt haben. "Nie wieder" ebenso wie Hakenkreuze.

Heraus aus dem Keller, bleibt er vor einer Baracke stehen. Dem Lagerbordell. Eingerichtet, um Kapos und Funktionshäftlinge zu belohnen, wenn sie den Arbeitsdruck erfolgreich gesteigert hatten. Als Prostituierte wurden Frauen aus dem Lager Ravensbruck in Mauthausen zur Sexarbeit gezwungen – unter anderem Prostituierte mit Geschlechtskrankheiten und lesbische Frauen zur sexuellen Umerziehung. Bis zu sieben Männer mussten sie am Tag empfangen, wie der Akt vonstatten zu gehen hatte, war exakt geregelt. Verhütung gab es keine. Schwangere Frauen wurden umgebracht oder einer Zwangsabtreibung unterzogen.

Nun betreten die Schüler eine Baracke. Für 300 Menschen war jede ausgerichtet. 500 haben hier gehaust. Links und rechts die Schlafräume, die ohne Hose betreten werden mussten, in der Mitte zwei Waschbecken, 13 Toiletten für alle. Als Matratze dienten Strohsäcke. Die Spinde mussten ordentlich, Holzbalken abgestaubt sein. War dies nicht der Fall, gab es Essensentzug – für alle. "Man ist immer bestraft worden", sagt Martin und fragt:

Was haben die Menschen hier überhaupt zu Mittag gegessen?

Hartes Brot?

Es gab Gemüsesuppe. Das Gemüse war aber ganz unten. Die ersten haben also Wasser bekommen. Und wenn man sich hinten angestellt hat, was konnte dann passieren?

Dass man gar nichts bekommt.

Genau. Aber das Essen war oft Abfall. Man hat Durchfall bekommen, durfte aber nicht immer aufs Klo.

Die haben in die Hose gemacht ...

Sie hatten keine Hose an ... Habt ihr schon mal Granit in der Hand gehabt? Der ist sehr scharf. Was kann passieren?

Man verletzt sich.

Ja. Und dann liegt man im Bett und es kommen Fäkalien in die Wunde. Wenn sie sich entzündet, kommt man ins Lazarett, wo man stirbt.

Weil so viele Menschen im KZ starben, wurde ein eigenes Standesamt eingerichtet, um die Sterbeurkunden auszufüllen. "Das war nötig, weil man im Standesamt im Ort gefragt hat, was da oben los sei", sagt Martin. "Danach hat keiner mehr gefragt. Aber der SS war schon bewusst, was sie da machen, nämlich ein Verbrechen an der Menschheit."

Es gab auch SS-Aufseher, die nicht so sadistisch waren. Martin erzählt von einem Gefangenen, der nur überlebt hat, weil ein Aufseher zu ihm sagte: "Du bist zu jung zum Sterben." Also hat er ihm mehr zu essen gegeben. "Und wie", fragt Martin, "hat dieser SS-Mann das entschieden?", um die Frage gleich zu beantworten: "Es war seine eigene Entscheidung. Es war auch jedermanns eigene Entscheidung, wie heftig er zuschlägt." Aber, fügt Martin an, "wenn ein SS-Mann jemanden erschossen hat, dann hat er zwei Tage Urlaub bekommen. Wegen psychischer Überlastung."

Besichtung des KZ Mauthausen
Ein Blick in den „Wiener Graben“, den Steinbruch mit der „Todesstiege“  

Frei wegen psychischer Überlastung

Auch in der Gaskammer wurden Menschen ermordet. Etwa 3500. Auf dem Weg dorthin wird es noch bedächtiger. Runter in den Keller, vorbei an einem der Krematorien, in denen Bilder von ehemaligen Häftlingen hängen und Blumen stehen, geht es durch einen abgedunkelten Raum. Dieser Raum ist voll mit Namen. Namen von im KZ ermordeten Menschen. Dicke Bücher liegen auf, ebenfalls voll mit den Namen der Ermordeten.

Und dann geht es zur Gaskammer. Einem Raum, ähnlich dem Duschraum, nur kleiner. Einem Raum, in dem weder heißes noch kaltes Wasser auf die Menschen heruntergespritzt ist, sondern Zyklon-B-Gas den Raum füllte. Eine Tatsache, die von manchen geleugnet wird, die Lagerkommandant Franz Ziereis aber bestätigte: "Im Lager Mauthausen wurde ... eine Vergasungsanstalt gebaut, die als Baderaum getarnt war. In diesem ... Raum wurden Häftlinge ... vergast ..."

Auf dem Weg nach oben geht es durch einen anderen Raum. Auch hier stand ein Krematoriumsofen. Und es gab ein Eck, in das sich die Häftlinge zum Vermessen stellen sollten. Vermessen wurde hier aber nicht. Es war das Genickschuss-Eck.

Es ist immer noch bitterkalt, als die Gruppe wieder nach oben kommt. Zwei Stunden sind vorbei. Die Schüler können wieder nach Hause fahren. Nach Hause. Nach Hause zu ihren Familien.

 

Schilderung eines ehemaligen Häftlings:

„Wahrscheinlich um sich zu wärmen, schlagen die SS-Männer mit voller Wucht auf die Männer ein, die steif vor Kälte und ungeschickt aus den Waggons fallen. Einige, vom Durst in den Wahnsinn getrieben, stürzen auf einen Brunnen zu. Trotz der Knüppelschläge trinken sie ...
Reisende stehen auf dem Bahnsteig und warten auf einen Zug. Sie sind die gleichgültigen Zeugen unserer Ankunft ...
Noch immer im Laufschritt durchqueren wir das Dorf, das in Friedenszeiten ein fröhlicher Ort sein muss. Die Kranken, die leise und sanft nach dem Ende ihres Leidensweges verlangen, müssen wir mitschleppen.
Die Bewohner betrachten uns ohne Neugierde, an einen solchen Anblick bereits gewohnt ...“

 

Anzeige von Landwirtin G. beim Gendarmerieposten Mauthausen (27. September 1941):

„Im Konzentrationslager ... werden ... im Wienergraben wiederholt Häftlinge erschossen, von denen die schlecht getroffenen noch längere Zeit leben und so neben den Toten ... halbtage lang liegen blieben. ... man ist oft ungewollt Zeuge von solchen Untaten. Ich bin ohnehin kränklich und solches Ansehen nimmt meine Nerven derart in Anspruch, dass ich es auf Dauer nicht ertragen kann. Ich bitte um Veranlassung, dass solche unmenschlichen Handlungen unterbleiben bzw. dort gemacht werden, wo man es nicht sieht.“

Haben die Menschen vom Lager gewusst?

Der Historiker Bertrand Perz beantwortete diese Frage vor Jahren im OÖN-Interview so:
„Natürlich. Das KZ wurde ja nicht geheim gehalten. Die SS-Männer waren auch in den Orten rundherum im Wirtshaus, hatten Liebschaften und Beziehungen. Bei der Errichtung erhofften sich Geschäftsleute, finanziell davon zu profitieren. Jedoch hat nicht jeder gewusst, was dort genau passiert. Es gab auch Anrainer, die Häftlingen geholfen haben, ihnen Lebensmittel zugesteckt haben. Prinzipiell muss man sich aber die Frage stellen, was Wissen für Konsequenzen hatte. Öffentlicher Protest war nicht möglich. Viele Bewohner akzeptierten und befürworteten den Nationalsozialismus, das unterschied die Mauthausener nicht von der übrigen österreichischen Gesellschaft.“

Besichtung des KZ Mauthausen
Krematoriumsöfen mit Gedenksprüchen, Bildern und Blumen.

Was sagen die Schüler?

Nach dem Rundgang haben die OÖN nachgefragt, wie die Schüler den Besuch beurteilen ...

So wie vier der fünf 4. Klassen des BG Vöcklabruck besuchen insgesamt 200.000 Menschen jährlich die KZ-Gedenkstätte. Insgesamt begleiten die Vermittler rund 4000 Gruppen, von denen die meisten Schulklassen sind – ein Drittel davon aus dem Ausland.

Geschichte-Lehrerin Christine besucht das Memorial mit Schülern seit 1999. Die Erfahrungen, die sie hier macht, sind stets positiv. Sie empfindet den Besuch absolut als zielführend – vor allem aus empathischen Gründen: „Die Schüler spüren hier, was man den Menschen angetan hat. Das sagen sie auch in den Nachbesprechungen. Man könne es hier nachfühlen.“

Dieser Meinung waren auch die Schüler, mit denen sie heuer das Memorial besucht hat ...

OÖN: Empfindet ihr diesen Besuch als wichtig?
Bonnie: Schon, weil man sieht, wo es passiert ist.
Rita: Man kann das sonst nicht so gut nachempfinden.
Valentina: Wobei es sicher zehnmal schlimmer war. Ich glaube, man kann sich besser reinversetzen, wenn man hier ist. Und als Ausflug mit der Familie würde man das wohl nicht machen.

Was hat euch besonders interessiert?
Simon: Unter welchen Umständen die Menschen gelebt haben.
Kai: Wie unhygienisch es war.

Hat euch das schockiert?
Kilian:
Mich nicht. Ich fand es sehr interessant. Aber ich finde es auch ein wenig unehrenhaft, dass so viele Menschen hier sind, weil es die Totenruhe stört.

Findest du es trotzdem gut, dass ihr heute hier wart?
Ja. Es war gut und es ist auch zu empfehlen, das hier zu sehen.

Endete früher der Geschichte-Unterricht oft noch vor dem Zweiten Weltkrieg, so verzeichnet man im Memorial mittlerweile ein gesteigertes Interesse von Schulen an Rundgängen. „Viele sagen uns, dass die Initiative von den Schülern selbst ausgeht. Wenn wir an Schultagen ausgebucht sind, sind immer mehr Schulen auch bereit, an einem schulfreien Tag zu kommen“, sagt Teres Stockinger vom Mauthausen-Memorial. Der Eintritt ist übrigens frei. Und für Schulklassen gibt es auch die Möglichkeit, nach dem Rundgang einen zweistündigen Workshop zu buchen.

 

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29. März 2024