Ja, das wollen alle!
Das ist eine dieser Überlieferungen, die man gar nicht oft genug erzählen, hören und weitergeben kann.
Vor Zeiten trafen sich einige Wanderer in einem Wirtshaus. Sie kamen alle von weiß Gott wo. Beim Essen und Trinken saßen sie nun zusammen und erzählten sich, was sie am Weg schon erlebt hatten und wo sie noch hinwollten. So entdeckten sie: Sie hatten ein gemeinsames Ziel! Was lag also näher, als gemeinsam weiterzuziehen. Sogar ihr Geld legten sie zusammen. Das sollte reichen – für alle.
Der Weg war aber weit – sehr weit. Schier endlos zog er sich durch eine Einöde. Nach und nach gingen die Vorräte zur Neige. Als sie endlich wieder in eine Stadt kamen, waren der Hunger und der Durst schon groß. Zu ihrer Freude war da ein Markt. Die köstlichsten Früchte wurden an den Ständen angeboten. Was für ein Anblick! Allerdings war von dem vielen Geld gerade noch ein einziger Golddukaten übrig. Jetzt hieß es entscheiden: Was sollten sie sich dafür kaufen?
Eine Frau, die Deutsch sprach, meinte: "Ich möchte Weintrauben. Die sind gut für den Durst und gegen den Hunger helfen sie auch." "Nein", sagte der Türke, "ich möchte Üzüm!" Das gefiel wieder der Jüdin gar nicht: "Also ich möchte Enav!", sagte sie. "Das Beste wird sein, wenn wir Angour essen", meinte der Perser.
Bald war über das, was für den Golddukaten gekauft werden sollte, ein Streit im Gange. Eine Marktfrau hörte eine Weile zu. Dann meinte sie: "Gebt den Dukaten mir – und ich verspreche euch: Jeder von euch wird das bekommen, was er will!"
Ungläubig starrten die Streitenden die Frau an: Das war doch nicht möglich? Bestimmt steckte eine List dahinter. "Mir scheint, du willst uns nur um unser Geld bringen", meinte eine der Frauen. "Ja", sagte einer, "mit einem Golddukaten die Wünsche von allen zu erfüllen, das ist doch nicht möglich!" – "Das wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein", pflichtete die Nächste bei.
"Schaut mich an", lachte die Marktfrau, "schaue ich aus wie eine, die etwas Böses im Schilde führt?" – "Na gut", meinten die Wanderer schließlich, "dann zeig, was du kannst!" – und gaben ihr den Golddukaten. Sie aber füllte einen Korb mit Weintrauben.
"So ist es recht", lachte die Erste, "wunderschöne, saftige Weintrauben!" – "Üzüm", freute sich der Türke, "wie ich es wollte." – "Na, wer sagt’s denn", war auch die Jüdin zufrieden, "herrliche Enav!" – Der Perser aber lachte: "Angour! Die werden mir schmecken!"
So bekamen sie alle, was sie wollten. Der Streit hatte ein Ende. Glücklich zogen sie weiter. "So ist es", sagten die Leute, "viele Sprachen, aber nur eine Wirklichkeit!".
Helmut Wittmann
Wittmann ist seit bald 30 Jahren Märchenerzähler von Beruf. Für Radio Oberösterreich gestaltet er jeden ersten Samstag im Monat die sagenhafte Stunde. Mehr unter maerchenerzaehler.at
Die Geschichte stammt aus dem Band „Das Geschenk der zwölf Monate – Märchen, Bräuche und Rezepte im Jahreskreis“, Tyrolia-Verlag