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Der Fotograf der Hölle

Von Manfred Wolf   04.Mai 2019

Der Tod ist überall. Das war hier, im Konzentrationslager Mauthausen, ohnehin immer so. Doch in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkriegs wütete er regelrecht.

Freilich, nicht der Tod wütete, die Menschen waren es. Lagerwärter, SS ... Die drohende Niederlage und die Befreiung des Reiches durch die Alliierten vor Augen ermordeten sie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs die Menschen zu Tausenden. Je näher die Alliierten kamen, desto mehr ging es der SS darum, Spuren zu verwischen und Zeugen zu beseitigen.

Auch von anderen Lagern wurden zu dieser Zeit rund 18.000 Häftlinge in Evakuierungstransporten aus dem Osten (Auschwitz, Sachsenhausen ...) nach Mauthausen gebracht – es kam zur Überfüllung und somit zu einer massiven Unterversorgung mit Lebensmitteln, die das Massensterben verschlimmerte. Die Leichen stapelten sich.

Am 29. April wurde die Installation der Gaskammer abgebaut, die tags zuvor noch in Betrieb genommen wurde. Auch jene Häftlinge, die im Krematoriumskommando eingesetzt waren, wurden ermordet. Die SS war um eine rasche Zeugenbeseitigung bemüht.

Doch nicht nur die Häftlinge wurden von der SS "vernichtet". Auch Fotos, Totenbücher, Dokumente. Nichts sollte auf die Gräueltaten und die Verbrechen gegen jede Art der Menschlichkeit hinweisen, die hier an der Tagesordnung standen, niemand sollte namentlich dafür zur Rechenschaft gezogen werden können.

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Die mutigen Spanier

Dies gelang zum Glück nicht ganz. Aus keinem anderen Lager im Dritten Reich sind die Abscheulichkeiten so gut dokumentiert wie aus Mauthausen. So wurden beispielsweise die Totenbücher von den beiden Häftlingen Ernst Martin und Josef Ulbrecht gerettet. Für die Rettung der Fotos zeichneten allerdings ausschließlich die spanischen Häftlinge verantwortlich, die damit auch die letzte noch so kleine Chance auf ihr eigenes Überleben aufs Spiel gesetzt haben, um hunderte Bilder aus dem Lager vor der Vernichtung zu retten.

Francisco Boix war einer dieser Mutigen. Der 1920 in Barcelona geborene Katalane lernte in seiner Heimatstadt den Beruf des Fotografen. 1936, als Francisco Franco mit einem Militärputsch den spanischen Bürgerkrieg auslöste, war Boix in der sozialistischen Jugend, der Juventudes Socialistas Unificadas de Cataluña, aktiv. Als 1939 seine Heimatstadt fiel, floh Boix nach Frankreich, wo er im Mai 1940 in deutsche Gefangenschaft geriet und am 27. Jänner 1941 nach Mauthausen gebracht wurde.

Boix wurde aufgrund seiner Ausbildung dem Erkennungsdienst im Lager zugeteilt. Seine Aufgabe bestand unter anderem darin, Fotos zu machen und zu entwickeln, auf denen die SS das Geschehen im Lager festhielt. Diese Bilder zeigten unter anderem Häftlinge, die bei der "Flucht" erschossen wurden oder sich "selbst" suizidiert hatten.

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Obwohl freilich viele Häftlinge die Qualen der Inhaftierung nicht länger ertrugen und sich tatsächlich das Leben nahmen, wurden viele Morde durch die SS, die dafür Prämien erhielt, auch als Selbstmord inszeniert und vom Erkennungsdienst fotografiert, schilderte Boix im Nürnberger Prozess nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem er als Zeuge aussagte.

Boix wurde dort aufgefordert, unter anderem jene Bilder zu erörtern, die er in Mauthausen gerettet hatte. So zum Beispiel ein Bild, auf dem zig holländische Juden zu sehen sind, die die Wahl hatten, sich von der SS erschießen zu lassen oder in den Zaun zu laufen – also Selbstmord zu begehen:

 

Boix: "Gleich am Tag ihrer Ankunft hat man die Juden dazu getrieben, sich in den Stacheldraht zu werfen, weil sie sich darüber im Klaren waren, dass keine Hoffnung auf ein Entkommen bestand."

 

Auch war der Erkennungsdienst dafür zuständig, Propagandafotos anzufertigen, die ein geordnetes Lagerleben suggerieren sollten. So schilderte Boix in Nürnberg die Ankunft von Offizieren im Jahr 1943, die für ihn ein äußerst merkwürdiges Schauspiel darstellte:

 

Boix: "... Nun brachte man sie in den schönsten, am besten gelegenen Block, steckte sie in ganz neue russische Kriegsgefangenenuniformen. Man gab ihnen sogar eine Zigarette und ließ sie in überzogenen Betten schlafen. Sie konnten so viel essen, wie sie wollten ... dabei fotografierte sie der Dienststellenleiter, Oberscharführer Paul Ricken, mit seiner Leica ununterbrochen. ... Diese Aufnahmen wurden von mir entwickelt ... und ... nach Berlin geschickt. Nachdem dies beendet war, wurde den Russen ihre saubere Kleidung und überhaupt alles weggenommen, und dann schickte man sie in die Gaskammer. Schon war die Komödie zu Ende ..."

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Boix, der durch seine Funktion gewisse Privilegien besaß, war klar, dass niemand das Ausmaß des Grauens je erfassen und glauben wird können, wenn er und seine Komplizen nicht die Bilder retten würden. Doch die Zeit drängte, denn schon kurz nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht 1943 in Stalingrad, dem Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs, begann die SS mit dem Vernichten der für sie kompromittierenden Dokumente und Bilder, die das Grauen im Inneren des Lagers zeigten.

Die Spanier, die im Erkennungsdienst beschäftigt waren – nicht nur Boix machte sich um die Rettung der Bilder verdient – schmuggelte die Negative und zum Teil auch Positive aus dem modern eingerichteten Fotolabor nach draußen. In der Folge wurden die Fotos in der Tischlerei, in der Werkstatt eines Uhrmachers, in Kaminen und allen möglichen Nischen versteckt. Andere nähten sich die Beweisstücke als Art Schulterpolster in die karge Sträflingskleidung ein.

Die mutige Anna Pointner

Auch das "Poschacher-Kommando" spielte eine wichtige Rolle. Dies waren junge republikanische Spanier, einige von ihnen zum Zeitpunkt der Inhaftierung erst 13 Jahre alt, die als Steinmetzlehrlinge eines lokalen Unternehmers in den Steinbrüchen als zivile Zwangsarbeiter arbeiteten. Sie durften sich – spätestens ab 1944, als sie offiziell als KZ-Häftlinge entlassen wurden – im Ort relativ frei bewegen und kamen täglich bei Anna Pointner vorbei.

Anna Pointner war von jeher Gegnerin der Nationalsozialisten. 1942 veranlasste der hiesige Bürgermeister zudem, dass ihr an Epilepsie leidender Sohn in die Heilanstalt Niedernhart nach Linz eingeliefert werden sollte, in der im "Bemühen um die Reinheit der Rasse" Euthanasie-Programme ausgeführt wurden. Sie kämpfte darum, ihn vor dem sicheren Tod zu bewahren und ihn zu Hause pflegen zu dürfen – was ihr auch gelang.

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Sie nahm zu den jungen Spaniern Kontakt auf und versorgte diese regelmäßig mit Essen. Hier konnte sie auch spanische und französische Nachrichten hören, die Informationen wurden beinahe täglich ins Konzentrationslager gebracht. Anfang 1945 übergab ihr der 17-jährige Jacinto Cortés eine Schachtel mit Bildern und Negativen, die sie bis zum Kriegsende in ihrem Garten versteckt hielt.

Als Anfang Mai die alliierten Truppen schon ganz nahe waren – die US-Truppen im Westen, die russischen Truppen im Osten – hatte die SS in einer Nacht- und Nebelaktion das Konzentrationslager Mauthausen bereits verlassen. Eine Einheit der Wiener Feuerschutzpolizei sowie eine Gruppe des Volkssturms waren von da an mit der Aufsicht der Häftlinge betraut.

In den Wochen zuvor wurden bereits einige Häftlinge nach einer Übereinkunft mit dem Internationalen Roten Kreuz in die Schweiz gebracht, außerdem wurden "Liebesgaben", also Lebensmittel ins Lager geliefert. Mitglied einer dieser Delegationen war der Schweizer Louis Haefliger. Er war es, der die US-Truppen aktiv gesucht und sie nach Mauthausen geführt hat.

Und hier kamen sie am 5. Mai 1945 an, die US-Soldaten, die Befreier. Ein historischer Moment, der von Boix fotografisch festgehalten wurde. Allerdings zogen die US-Truppen noch am selben Tag wieder ab, um erst tags darauf wiederzukommen. Knapp 24 Stunden also waren die nun einstigen Häftlinge auf sich alleine gestellt.

Boix hielt mit seiner Leica auch diese Momente fest. Die Ankunft, die Befreiung, die Freude und die immer noch herrschende Not. Aber auch die vielen Toten, die sich im Lager stapelten. Es war eine der ersten Aufgaben der US-Armee, sich der leblosen Körper zu entledigen, denn sie stellten eine große Seuchengefahr dar. Für diese Aufgabe wurde auch die Zivilbevölkerung herangezogen.

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Boix blieb noch bis Ende Juni in Mauthausen, er fotografierte auch noch das Verhör des ehemaligen Lagerkommandanten Franz Ziereis, der Wochen nach der Befreiung in Spital am Pyhrn auf der Flucht angeschossen und schwer verletzt ins Nebenlager Gusen, unweit vom Stammlager Mauthausen, gebracht wurde. Rund 24 Stunden wurde er verhört, ehe er seinen Verletzungen erlag.

Auch im nun befreiten Konzentrationslager blieb in den Wochen danach eines unverändert: Der Tod wütete. Für hunderte Menschen dauerte die Freiheit nur wenige Stunden und Tage. Malträtiert und drangsaliert über Monate und Jahre hinweg starben zig Menschen noch in den Tagen danach.

Francisco Boix war nach dem Weltkrieg ein wichtiger Zeuge bei den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Dachau. Er starb am 7. Juli 1951 an den Spätfolgen der Lagerhaft. Anna Pointner war nach dem Krieg bis 1973 im Gemeinderat tätig und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Sie starb am 12. November 1991.

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Die Bedeutung der Bilder

Laut Francisco Boix wurden rund 20.000 Negative und Positive gesichert – verbrieft sind allerdings nur rund 2000. Es tauchen aber immer wieder Bilder auf. Jene, die diese Woche in Australien entdeckt wurden, dürften, so Christian Dürr, allerdings bekannt sein. „Vermutlich handelt es sich dabei um ein Album, das nach dem Krieg auf Basis von Fotos angefertigt wurde, die damals bereits zirkulierten.“

Fotos aus den Lagern des Dritten Reichs sind naturgemäß selten. „Darum sind die Bilder aus Mauthausen auch um die Welt gegangen, sie haben sich von Mauthausen losgelöst und zeigen, wie die Mordmaschinerie funktioniert hat“, sagt Dürr.

 

Zum Streamen und Lesen

Film: Der Streamingdienst Netflix zeigt den Film „Der Fotograf von Mauthausen“. Historisch sehr fehlerhaft, bringt er das Thema zumindest aufs Tapet.

Buch: Beeindruckend ist das Buch „Francisco Boix, der Fotograf von Mauthausen“ von Benito Bermejo aus dem Jahr 2002 (die deutsche Ausgabe erschien 2007 im Mandlbaumverlag und ist leider vergriffen). Im Buch auch Befragungsprotokolle der Prozesse.

Comic: Ein auf Tatsachen basierender Comic mit gleichem Namen (wissenschaftliche Begleitung durch Holzinger und seinen Kollegen Ralf Lechner) erscheint demnächst bei
„bahoe books“ (24 Euro).

 

Diese Fotos stammen von Francisco Boix. Sie wurden in den Tagen nach der Befreiung des Lagers Mauthausen aufgenommen – alle weisen einen Belichtungsfehler auf.

Gedenkstätte und Befreiungsfeier

Die Gedenkstätte Mauthausen gibt es seit 1947. Der ehemalige Lagerkomplex wurde von der sowjetischen Regierung an die Republik Österreich übergeben – gekoppelt an die Bedingung, eine Gedenkstätte einzurichten. Obwohl der Lagerkomplex Gusen bei seiner maximalen Ausdehnung größer war als das Stammlager, wurde dennoch Mauthausen übergeben, da die Sowjetunion an Gusen wirtschaftliche Interessen hatte und in den drei Steinbrüchen weiter Granit abbaute.

„Niemals Nummer. Immer Mensch“ ist das Thema der Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (5. Mai, 11– 13 Uhr). Zur 74. Wiederkehr der Befreiung laden das Mauthausen Komitee Österreich, die Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen und das Comité International de Mauthausen.

 

OÖN-TV berichtete in dieser Woche, wie es um das Erinnerungsvermögen der (jüngeren) Landsleute steht:

 

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19. April 2024