Zwischen Dichtung und Wahrheit
Lydia Mischkulnigs „Die Richterin“ steht an der Spitze der ORF-Bestenliste
Gabrielle, die Hauptfigur in Lydia Mischkulnigs neuem Roman, ist eine Richterin, die mit Asylverfahren in zweiter Instanz beschäftigt ist. Obwohl sie zu wohlwollenden Urteilen neigt, verliert sie nie den professionellen Blick. Einfach ist das nicht. Traurige Wahrheit oder klug inszenierte Täuschung? Wie unsicher sind afghanische Provinzen außerhalb von Kabul wirklich? Ist der junge Mann, der in Österreich Asyl sucht, tatsächlich ein Homosexueller, der in seiner Heimat mit dem Tod bedroht wird? "Gabrielle konnte zeitweise keiner Fluchtgeschichte mehr Glauben schenken und dann wieder jeder."
Die Belastungen ihrer beruflichen Arbeit wären für Gabrielle besser zu ertragen, wenn ihr Privatleben harmonisch verliefe. Aber ihre langjährige Ehe mit Joe hatte auch schon bessere Phasen. Joe war Lehrer, wurde aber in die Frühpension verabschiedet. Nun hat er eine seltsame Neigung entwickelt, heimlich die Kleidungsstücke seiner Frau anzuziehen.
Waffen und eine Fehlgeburt
Seit vielen Jahren wird die Beziehung von Joe und Gabrielle von Ereignissen überschattet, deren Ursachen in Gabrielles Familie liegen. Ihr Vater, der in Waffengeschäfte verwickelt war, wurde mit einer Pistolenkugel im Kopf aufgefunden. Angeblich Suizid. Gabrielles Bruder Karl war jahrelang drogenabhängig. Ihre Liebe zu ihm ging so weit, dass sie während ihrer Schwangerschaft nach Athen reiste, um Karl aus dem Gefängnis zu holen. Aufgrund einer hässlichen Szene verlor sie das Kind. Joe hat Karl dies nie verziehen. Aber hat er deshalb das Recht, seiner Frau den Kontakt mit dem Bruder zu verbieten?
Das ist eine ganze Menge Leben, von dem Lydia Mischkulnig da erzählt. Gabrielles private Geschichte ist zwar klug angelegt, in der erzählerischen Ausführung gerät sie aber zu skizzenhaft und vordergründig. Lesenswert ist dieser Roman vor allem aufgrund der realistisch beleuchteten Arbeitssituation einer Richterin für Asylverfahren. In diesen Darstellungen, die durch aufwendige Recherchen abgesichert sind, beweist Mischkulnig Sachkenntnis und hohes Problembewusstsein jenseits aller Schwarz-Weiß-Malerei.
Lydia Mischkulnig: "Die Richterin" (Roman, Haymon, 290 Seiten, 22,90 Euro)
OÖN Bewertung: