Wie aus Handkes Ahnen eine Galerie der Menschheit entsteht
Stephanie Mohr setzte "Immer noch Sturm" des designierten Nobelpreisträgers in den Linzer Kammerspielen berauschend in Szene.
Mit der Regieanweisung "Still Storm" ("Immer noch Sturm") überschrieb William Shakespeare jene Szene, in der König Lear Blitz und Donner beschwört, um seine undankbaren Erbinnen zum Teufel zu jagen. Peter Handke drehte den Spieß um und nannte seine Ahnen-Rückschau im Grenzgebiet zwischen Kärnten und Slowenien nach diesem Shakespeare-Zusatz. Er mischt echte Familienhistorie mit fiktionalen Korrekturen, weil für Handke Literatur auch bedeutet, Gerechtigkeit herzustellen. Am Freitag brachte Regisseurin Stephanie Mohr den 2011 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten Prosa-Textbrocken in den Linzer Kammerspielen zur beglückenden Premiere.
Das Ensemble ist ein Kraftwerk
Mohr spürt in Texten auf, was jeder bei sich denkt. Mit dieser Gabe gestaltet sie Figuren. Und wie schon bei ihrer Linzer "Andorra"-Inszenierung 2018 verwächst das Ensemble auch diesmal zu einem Kraftwerk, das die wuchtigen Monologe der von Handke herbeigeträumten Ahnen nicht nur zueinander in Beziehung bringt, sondern auch die Psychologie der gedemütigten Volksgruppe der Slowenen offenbart. Rund 15 Mikrofone, Tonbandgeräte und Verstärker stehen über die von blauen Vorhängen hermetisch abgeriegelten Bühne verteilt (Bühnenbild: Florian Parbs, Kostüme: Nini von Selzam). Die Geräte sind grün verkabelt und taugen zum Apfelhain, den Handke wie eine Oase der Selbstbestimmung zeichnet. Wolfgang Schlögls Klänge und Gesänge bereichern das Sitten- und Sippen-Gemälde um eine zusätzliche Dimension.
Handkes Mutter gehörte der slowenischen Minderheit in Kärnten an. Zwei ihrer Brüder fielen in den Reihen der Wehrmacht. Im Stück kämpfen der Dandy Valentin und der junge Benjamin (Benedikt Steiner und Markus Ransmayr) für das Tausendjährige Reich, während sich der ältere Gregor (eine Glanzrolle für Julian Sigl) samt Schwester Ursula den Partisanen anschließt.
Gunda Schanderer entwickelt diese Ursula blendend von der ungeliebten, ungebildeten Widerständischen zu einer Frau, die an der Erbarmungslosigkeit der Partisanen verzweifelt. In den finalen Kriegstagen wird sie von den Nationalsozialisten geschnappt und zu Tode gefoltert.
Es sind die präzisen Zwischentöne, mit denen sich Mohrs Inszenierung zum Textkonzert verdichtet. Etwa jene von Anna Rieser, die Handkes Mutter mit liebevoller Einfalt ausstattet, aber nie verkleinert. Oder die von Katharina Hofmann gewaltig gespielte Figur der mächtigen Großmutter, die zunächst die Referate des Großvaters (Lutz Zeidler) regungslos absorbiert, dass etwa die Heimat schon verloren habe, wer "Schrank" statt "Kasten" sagt. Doch schließlich ist es sie, die Ursula und Gregor zum Kampf anstachelt. Bleibt noch Handke selbst, den der Autor als "Ich" hingeschrieben hat: Christian Higer ist gewaltig als dieser Wanderer zwischen Welten und Zeiten: Erzähler, Beobachter und Spielleiter der Erinnerungs-Fantasien. Am Ende begegnet er sich selbst.
Der Krieg ist aus, die Leiden der Slowenen sind es nicht. Das Volk wurde zu Österreichs Feigenblatt. Sein Widerstand taugte zum Beweis, dass man sich aus eigener Kraft gegen das Nazi-Regime gestemmt hätte. Also galt Österreich als überfallen und durfte selbstbestimmt gedeihen. Die zweisprachigen Ortstafeln wurden trotzdem noch lange nicht angeschraubt. Langer, überwältigender Applaus.
Fazit: Der Begriff "Inszenierung" erfährt mit diesem Abend seine Definition. Ein enormer Textbrocken schwerelos von blendenden Schauspielern balanciert.
Kammerspiele Linz: "Immer noch Sturm", von P. Handke, Premiere: 6. 12., Regie: Stephanie Mohr, Termine: 11., 20., 27. 12.; 3., 14. 1.; 6., 21. 3. Info: 0732 / 76 11-400, landestheater-linz.at