Wenn es um Leben und Tod einer ganzen Familie geht
Kammerspiele: Regisseur Christoph Diem beleuchtet mit Hauptmanns "Einsame Menschen" den zeitlosen Biedermeier-Egoismus
Es ist eine wohlhabende bürgerliche Sippe, die sich da aufs Land zurückgezogen hat: Johannes Vockerat (Christian Taubenheim) und seine Frau Käthe (Theresa Palfi) sind Eltern eines vor kurzem zur Welt gekommenen Buben. Johannes’ Eltern (Gunda Schanderer, Klaus Müller-Beck) haben die junge Familie begleitet und sind mittendrin, als der junge Vater mit seiner wissenschaftlich-psychologischen Arbeit nicht weiterkommt – und Käthe in einer Art Wochenbettdepression steckt. Die Beziehung der beiden ist nicht bloß von der Gegenwart ramponiert. Sie ist ihm zu einfältig, zu ungebildet, zu verständnislos. In dieser Atmosphäre der Demütigungen setzt die Studentin Anna Mahr (Ines Schiller) ihren Fuß in die Tür. Johannes’ Freund Braun (Alexander Hetterle) hat die bezaubernd schlaue Frau in Paris kennengelernt. Jetzt zieht sie bei Vockerats ein und beginnt mit Johannes ein kokettes Spiel mit dem Feuer – mit katastrophalem Ende.
Gerhart Hauptmanns 1891 uraufgeführtes Drama "Einsame Menschen" ist eine psychologische Analyse um Machtspielchen, gesellschaftliche Geltung und Egoismus ohne Ablaufdatum. Regisseur Christoph Diem, der vor zwei Jahren Ibsens "Volksfeind" am Landestheater inszeniert hat, hat das Stück um den angestaubten Widerspruch Glaube/Wissenschaft und um einiges Personal abgespeckt. Dadurch belüftet er die Beziehungen der Figuren zueinander und schärft die Chronologie jenes Prozesses, den Braun mit "Es geht hier um Leben und Tod einer ganzen Familie" beschreibt. Im ersten Bild steht quasi metaphorisch ein greller Scheinwerfer auf der Bühne. Szene um Szene öffnet sich der anfangs hermetische Biedermeier-Raum. Es wird der Blick frei auf die Landschaft der ungekünstelten Empfindungen (Bühne, Kostüme: Florian Barth).
Taubenheim, Palfi und Schiller greifen bei der Gestaltung der fatalen Dreiecksbeziehung wie ein Uhrwerk ineinander. Mit ihrem glaubhaften Durchwaten psychologischer Untiefen gedeiht das Stück zum Schauspiel-Ereignis. Schanderer ist eine perfekt balancierte Mutter, deren Liebe sich als den Schein wahrendes Getue entlarvt. Müller-Becks Vater wird von Diem zum dämonischen Beobachter zusammengestrichen, der allerdings ob der Reduktion akzentuiertes Vorbild für konventionelle Beziehungen und cholerische Anfälle seines Sohnes wird. Hetterle ist ein guter Geselle, der es redlich meint, aber wie alle scheitern muss. Am Ende rotiert alles, die Rollenbilder wechseln die Figuren – kräftiger Applaus nach 90 Minuten mit starken Momenten der Selbsterfahrung.
Fazit: Wenn aus Theater Lebenswirklichkeit wird: Konzentration auf das Immergültige und berührende Figuren in glaubhaften Beziehungen. "Einsame Menschen" von Gerhart Hauptmann, Kammerspiele Linz, Premiere: 18. Mai, Regie: Christoph Diem, Termine bis 6. Juli. Info/Karten: www.landestheater-linz.at, Tel: 0732/7611-400