Pilot, Fußballfan und Musikgenie
"War Requiem": Nach dem Triumph in Frankreich kommt der Dirigent Daniel Harding mit dem Orchestre de Paris und Benjamin Brittens Werk am Samstag ins Brucknerhaus
Eineinhalb Stunden lang verstörende, versöhnende und fein aufgespürte Musik: Benjamin Brittens "War Requiem" in der Pariser Philharmonie mit dem Orchestre de Paris unter seinem Chef Daniel Harding. Nach dem letzten Takt eine gut einminütige Stille. Niemand unter den 2400 Besuchern hustet, keiner niest oder rutscht auf dem Platz herum. Diesen Moment, in dem die Wucht der Musik körperlich nachwirkt, unterbricht ein junger Mann im Parterre: Langsam beginnt er zu klatschen, und von ihm angestiftet bricht der Applaus wie ein Sturm nach der Ruhe über den kolossalen Konzertsaal herein.
"Gewaltig", sagt Brucknerhaus-Chef Dietmar Kerschbaum, der zusammen mit den OÖN Zeuge dieses Pariser Ereignisses wurde. Am Samstag werden Harding und sein Orchester mit der Wucht von Brittens Werk in Linz aufschlagen, nachdem sie morgen in der Hamburger Elbphilharmonie und am Freitag in der Münchner Philharmonie im Gasteig gespielt haben.
Hardings Verwandlung
Es ist eine Art Abschiedstour von Harding, der mit 17 Assistent von Simon Rattle wurde und mit 20 von Claudio Abbado zum "Genie" ernannt wurde. Mit 21 dirigierte er erstmals die Berliner Philharmoniker und seitdem jedes wichtige Orchester als Gast. Nach Stationen in Trondheim, Bremen (Mahler Chamber Orchestra) und Stockholm (Schwedisches Radiosinfonieorchester) wurde er 2016 in Paris erstmals Chef eines Klangkörpers von internationaler Bedeutung. Und dort will Harding schon wieder weg. Publikum und Kritik feiern ihn, aber künstlerisch fühle er sich an der Seine nicht wohl. Ende 2019 ist in Paris Schluss, ein anderes Angebot habe er nicht, Harding plane, ein Jahr lang zu pausieren. Der 43-jährige Brite will mehr Zeit fürs Fliegen haben (Harding ist Privatpilot) und für Stadionbesuche, um seinen vergötterten Verein Manchester United anzufeuern. Seit sich die Bratschistin Béatrice Muthelet, mit der er zwei Kinder hat, von ihm scheiden ließ, sei er ein anderer Mensch – sagen einige, die ihn lange kennen. Seit dieser Verwandlung zerstückle Harding Musik nicht mehr intellektuell, sondern er habe die Fähigkeit erworben, ganzheitliche Momente von Schönheit zu kreieren. Vor dem Spiegel trainierte er obendrein Bewegungen, die seine künstlerischen Vorstellungen überzeugender vermitteln.
Beim Verbeugen steigt er in Paris nicht mehr aufs Podium. Er applaudiert seinen Musikern, schüttelt Hände und genießt neben Bariton Christian Gerhaher und Tenor Andrew Staples, wie ihnen das Publikum auf Benjamin Brittens Spuren gefolgt ist. Als er zum vierten Mal herausgeklatscht wird, muss ihn einer der Sänger auf die Bühne schieben. Würde er in Paris bleiben, müsste er "die musikalische Natur dieses Orchesters zerstören", um es sich zu eigen zu machen, sagte er, als er die Trennung ankündigte. Für diesen Abend verwuchsen Harding und das Orchestre de Paris zu einem Kraftwerk.
Benjamin Brittens "War Requiem"
„Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen“, schrieb der englische Dichter Wilfred Owen, der 1918 im Ersten Weltkrieg mit nur 25 Jahren fiel.
Diese Worte setzte Benjamin Britten (1913–1976) als Motto vor die Partitur seines „War Requiem“. Der Komponist weilte in den USA, als die deutsche Luftwaffe am 14. November 1940 die Stadt Coventry angriff: Im Bombenhagel der „Operation Mondscheinsonate“ wurde die Stadt samt ihrem Dom aus dem 14. Jahrhundert zerstört. 1962 wurde die renovierte Kathedrale feierlich eingeweiht – mit der Uraufführung der Musik von Benjamin Britten, der dafür diese Totenmesse der besonderen Art geschaffen hatte, für Kammerorchester, Sinfonieorchester, drei Gesangssolisten und zwei Chöre.