Wenn zwei sich hassen: Reich-Ranicki und Grass
Das Duell: Volker Weidermann schreibt über die lebenslange Feindschaft des Literaturkritikers und des Nobelpreisträgers
Im Jahr 1958 findet ihr erstes Treffen statt: Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und der Literaturnobelpreisträger Günter Grass begegnen einander im Grand Hotel Bristol in Warschau. Es war der Auftakt zu einem lebenslangen Kampf der beiden Alpha-Männchen. Wie man weiß, hatte Grass das letzte Wort. Er starb am 13. April 2015, also eineinhalb Jahre nach jenem Mann, der ihn am erbittertsten abgelehnt hatte.
Vor vier Jahren übernahm Volker Weidermann "Das Literarische Quartett" im ZDF und trat damit Reich-Ranickis Erbe an. Er hat nun das Leben beider in dem Band "Das Duell" zusammengefasst. Am 6. Dezember wird Weidermanns letzter Auftritt als Zeremonienmeister des Buchmarktes ausgestrahlt. Der 50-Jährige will sich wieder mehr auf seine Arbeit als schreibender Literaturkritiker konzentrieren.
"Das Duell" eröffnet in den 1920er-Jahren in Polen. Reich-Ranicki wird in seinem Geburtsort Wloclawek (Leslau) von seiner Mutter mit deutscher Literatur angefreundet. Grass erlebt von seiner Mutter wenig später das Gleiche im gut 200 Kilometer entfernten Danzig. Weidermann bedient sich einer schlüssigen Schnitttechnik, die vom einen Leben in das andere überblendet.
Jude und Waffen-SS
Die Wurzeln beider waren einander nah, aber die Geschichte wollte es anders: Marcel Reich, wie er damals hieß, harrte im Warschauer Ghetto und überlebte den Zweiten Weltkrieg bei einem Ehepaar versteckt. Davon sollte er ab 1999 ausführlich erzählen. Günter Grass ging zur Waffen-SS, was er erst 2006 gestand.
Beim ersten Treffen fanden sie einander langweilig. Reich-Ranicki war noch nicht Kritiker, und Grass hatte gerade in Danzig für seinen späteren Welterfolg "Die Blechtrommel" recherchiert. "Wahrscheinlich waren der Wille zur Größe und die Liebe zur Literatur die einzigen Dinge, die die beiden verbunden hat", sagt Weidermann. "Letztendlich mag sogar der größte Verriss von Reich-Ranicki dem Ruhm von Grass genützt haben." Im Gegenzug warf Grass Reich-Ranicki in Interviews "stalinistischen Furor" und eine Vorliebe für die "Ästhetik des sozialistischen Realismus" vor.
Die legendäre Gruppe 47, der beide angehörten, mag lange Zeit klärende Funktion gehabt haben. Weidermann: "Weil sie sich dort zwei Mal im Jahr in die Augen sehen und miteinander sprechen mussten." Als 1967 damit Schluss war, seien Reich-Ranickis Antworten auf Grass’ Texte unerbittlicher geworden.
Literaturpapst und Nationalschriftsteller – gibt es diese Rollenverteilung heute noch? "Nein, diese Figuren fehlen in der Literatur wie in der Politik", sagt Weidermann. Für Reich-Ranicki sei Literatur auch nicht bloß Leidenschaft gewesen. "Sie war Überlebensmittel! Im Keller der Familie des arbeitslosen Schriftsetzers Bolek Gawin hat er den Krieg nur deshalb überlebt, weil er die schönsten Geschichten der Literatur erzählte. Gawin hatte ja oft überlegt, ob er es sich noch leisten konnte, einen Juden zu verstecken."
Gesellschaftspolitisch habe Literatur in den vergangenen 20 Jahren an Bedeutung verloren. Weidermann: "Andererseits gab es noch nie so viel Meinung über Literatur wie heute, das Internet ist voll davon." Ein aufsehenerregendes Erinnerungsstück ist etwa auch Reich-Ranickis Kommentar auf Grass’ Nobelpreis im Jahr 1999: "Stellen Sie sich vor, Martin Walser wäre der Preis zugefallen, das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe…"
Volker Weidermann: "Das Duell – Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki", Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 22,70 Euro