Spiel mit dem Unheimlichen
Xaver Bayer entwirft in "Geschichten mit Marianne" zwanzig Worst-Case-Szenarien
Ach, immer diese öden Dystopien, die wir aus Angst so lange heraufbeschwören, bis sie dann Wirklichkeit werden." Die neunzehnte von zwanzig "Geschichten mit Marianne", die der Wiener Xaver Bayer in seinem neuen Buch erzählt, scheint uns an ein Szenario heranzuführen, das rund um das Coronavirus derzeit entworfen wird: Von Sperren und Hamsterkäufen aufgrund von Seuchenausbrüchen ist da die Rede.
Doch der 1977 geborene Autor treibt in seinem Erzählband nicht nur das aus seinen bisherigen Büchern bekannte lustvolle Spiel mit dem Unheimlichen weiter, er profiliert sich geradezu als Spezialist für Worst-Case-Szenarien.
Vorräte gehen zur Neige
Dem Paar, das in allen Geschichten im Zentrum steht, ist in Story Nummer 19 daher nicht nur Strom und Gas abgedreht. Die Vorräte gehen zur Neige, und es herrscht bittere Kälte, die dazu führt, dass alles verheizt wird, was brennbar ist: teure Möbel, wertvolle Kunstwerke und die ganze Bibliothek. Am Ende übergibt der Ich-Erzähler, der offenbar mit dem Autor der Erzählung ident ist, auch Xaver Bayers gesammelte Werke mit ironisiertem Pathos den Flammen, "mein zuletzt erschienenes Buch, ,Geschichten mit Marianne‘", inklusive. Und er witzelt: "Im Nachhinein betrachtet hätte ich wohl besser dicke Wälzer schreiben sollen."
Marianne entpuppt sich als ein wahrer Agent Provocateur. Wo sie dabei ist, und sie ist früher oder später überall dabei in diesen Geschichten, laufen die harmlosesten Alltagssituationen aus dem Ruder, kann der Horror schon hinter der nächsten Ecke lauern.
Ein Gang in den Keller wird zum Abstieg in die Unterwelt und eine Fahrt mit dem Lift zum Himmelfahrtskommando, ein Spaziergang im Wald konfrontiert mit Maschinengewehrfeuer, ein Perchtenlauf eskaliert zum unkontrollierten Gewaltausbruch.
Marianne ist die Verführerin zum Risiko, zur Grenzüberschreitung. Sie weiß um Gelegenheiten für außergewöhnliche Abenteuer und verfügt über Schlüssel zu geheimen Kammern. Doch auch der Ich-Erzähler ist keineswegs immer Opfer. Bereits in der ersten Geschichte beteiligt er sich mit einem Jagdgewehr vom Fenster einer mit Kunstwerken üppig ausgestatteten Wohnung aus an einer Straßenschlacht.
Flohmarkt und Swingerklub
Der provokante Gegensatz zwischen bürgerlicher Ordnung und blankem Chaos, Bewahrung und Zerstörung von Kulturgütern und Traditionen, steht im Zentrum von "Geschichten mit Marianne", ob sie das Paar auf den Flohmarkt oder in den Swingerklub führen: Immer wieder kippt dabei der kontrollierte Nervenkitzel in die reine Anarchie.
"Etwas ist anders als sonst", das ist die Grundkonstante. Und die daraus entstehende Grundfrage lautet: Macht uns diese Erkenntnis Freude oder Angst? Denn so reizvoll diese "Geschichten mit Marianne" sind, so beruhigend kann es am Ende doch sein, wenn nach der Lektüre hinter der nächsten Tür doch nur das Gewohnte auf einen wartet. Hoffentlich jedenfalls. (whl)