Peter Handkes poetische Verdichtung des Alltäglichen
"Innere Dialoge an den Rändern": Persönliches poetisch verwandelt mit kritischer Selbstbefragung des Literaturnobelpreisträgers.
Im Jahr 1977 erschien "Das Gewicht der Welt", Peter Handkes erstes "Journal". Der damals 35-jährige Autor sah das Journal als geeignete Form, um auf Wahrgenommenes und Erfahrenes möglichst unmittelbar mit Sprache zu reagieren. Kein Leben ohne Schreiben! Seither erscheinen Handkes Notat-Bücher in unregelmäßigen Abständen. Mit seiner jüngsten Publikation, die im kleinen, feinen Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen ist, setzt er diese Tradition fort.
Wer sich von Peter Handkes Journalen intime Tagebuchbekenntnisse erwartet, wird enttäuscht sein. Persönliches enthalten seine Notate sehr wohl, aber nicht als Wiedergabe, Nacherzählung oder Bekenntnis, sondern als poetische Verwandlung und Verdichtung. Zum Beispiel so: ",Schäm dich!‘, sagte der beginnende Schneefall zu dem vor sich Hinwütenden. Und der schämte sich." An kritischer Selbstbefragung mangelt es nicht, bisweilen auch mit Ironie: "Seit ich mich selber kenne, fürchte ich die Tiere." Umgekehrt formuliert er anstrebenswerte "Ideale" wie das "fröhliche Versäumen".
Einen Hauptanstoß zum "Aufschreiben" sieht Handke darin, "das Ergriffenwerden festzuhalten, weiterzugeben, zu überliefern". Leitmotivisch thematisiert er das "Tagwerden im Tag", kurze, scheinbar unauffällige Aufhellungen des Alltags, zum Beispiel das überraschend eintretende "Erwachen der alten Lernlust", das ihn zum Wörterbuch des Altgriechischen greifen lässt. Immer wieder macht er uns zu Zeugen seiner Suche nach dem geeigneten Wort, dem zutreffenden Bild. Synonyme gibt es für ihn nicht, jedes Sprachzeichen enthält eine individuelle Bedeutungsnuance. "Schicksalsergebenheit" ist nicht dasselbe wie "Fatalismus".
In den Jahren 2016–2021 schrieb Peter Handke an seinem Roman "Die Obstdiebin" und am Bühnentext "Zdenek Adamec". Seine Notate aus dieser Zeit enthalten poetologische Anmerkungen zu diesen Werken. Schreiben als Lebensform ist für Handke untrennbar mit dem Lesen verknüpft.
Der Leser Peter Handke hält markante Zitate fest, aus Werken von Stendhal, Goethe, Tolstoi, aus den Evangelien, nicht immer zustimmend, sondern auch in kritischer Distanzierung. Während seiner Rilke-Lektüre möchte er dem Kollegen ins Wort fallen: "Hör auf! – jetzt!"
Fast ergebnislos sucht man in Handkes Journal nach Kommentaren zum Zeitgeschehen. "Aktualität" verweigert er explizit und "unpolitische" oder "unpolitisierbare" Menschen erlebt er bisweilen als die unterhaltsameren Zeitgenossen. Selbst der Corona-Pandemie widmet er nur wenige Sätze. Das mag man ihm als Realitätsflucht ankreiden, aber vielleicht ist es besser so. Wenn sich Handke in der Vergangenheit allzu weit und lautstark aus dem politischen Fenster lehnte, ging es selten gut aus.
Peter Handke: "Innere Dialoge an den Rändern. Aufzeichnungen 2016– 2021", Jung und Jung, 372 Seiten, 26 Euro
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