Erinnerungsland unter
Raphaela Edelbauers sprachmächtige Parabel zieht die Tuchent von der verschlafenen österreichischen Seele.
1Es ist eine seltsame, ein wenig gruselige Reise, auf die uns Raphaela Edelbauer einlädt. Die Wiener Schriftstellerin führt anhand ihrer Protagonistin, der Physikerin Ruth, in ein Dorf namens Groß-Einland, wo sie vor der unangenehmen Aufgabe steht, für ihre jüngst verschiedenen Eltern eine Grabstätte zu suchen. Doch schon die Fahrt ins Dorf ihrer Herkunft gerät zu einem nahezu unmöglichen Unterfangen. Ruth kommt dennoch an und findet sich inmitten eines seltsam agierenden Menschenschlags. Jede ihrer Fragen geht bald ins Leere, endet im Indifferenten. Ihre Recherchen zur Jugend der Eltern werden auf passiv-aggressive Art hintertrieben. Ein monströses Geheimnis scheint die Bewohner in Verschwiegenheit zu einen. Dennoch fühlt sie sich mehr und mehr dem Ort zugehörig, über dem eine Burg thront. Darin eine Gräfin, die alles und jeden im Dorf als ihren Besitz betrachtet.
Versunken im Lebenslügenloch
Ruth wird schließlich auserkoren, das Dorf zu retten. Denn es wird von seinen Vergangenheiten aufgefressen. Die Abbaustollen unter dem ehemaligen Bergbauort brechen langsam ein und schlürfen Haus für Haus in die Tiefe. Es ist ein "flüssiges Land", das die Physikerin irgendwie stabilisieren soll. Und dann ist da noch ein Verbrechen aus der NS-Zeit, das Herzen und Hirne zerbröselt.
Es gleicht einer intellektuellen Hochschaubahnfahrt, den Exkursionen von Edelsbauers Charakteren durch die Schriftlandschaft zu folgen. In ihrem Romandebüt spielt die studierte Sprachkünstlerin gekonnt mit den Ambivalenzen: Die inneren Monologe der seelisch aufgewühlten Hauptfigur schlagen sich mit der unterkühlten Auskunftsfreude der Dörfler. Das Verschwiegene aus dem Untergrund trifft auf oberflächlichen Aktionismus, dass es fast weh tut. Der Erzählfluss wirkt, als würde er vom implodierenden Bergwerk wie von einem Schwarzen Loch angezogen, und stockt dennoch – und an den richtigen Stellen.
Edelbauer (29) schöpft aus einem riesigen Wortschatz und stattet mit enormer Sprachmächtigkeit eine Parabel aus, die Österreichs verlogene Zeitgeschichte in einer noch nie gelesenen Weise decouvriert. Erfreulich, dass die Verständlichkeit darunter keineswegs leidet.
Longlist für Deutschen Buchpreis
Es ist alles andere als ein Zufall, dass sich "Das flüssige Land" aktuell auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis findet. Die Güte des Romans kommt nicht überraschend, konnte die junge und experimentierfreudige Literatin doch beim Bachmann-Wettlesen 2018 den Publikumspreis holen und im selben Jahr den Hauptpreis der Rauriser Literaturpreise. Heuer wurde sie mit dem Theodor-Körner-Preis ausgezeichnet.
Nicht nur der Preisreigen hebt "Das flüssige Land" auf Höhe der Aktualität. Edelbauer nimmt sich auch der derzeitigen Hochblüte des Heimatkitsches an und verortet ihn ebenfalls in der flächendeckend mangelnden Aufarbeitung.
Lesung: 3.10.2019, 19:30 Uhr, Stifterhaus Linz