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100 Jahre vor dem literarischen Auge

07.Jänner 2017

2874 Seiten umfassen die fünf Bände in der von Gero Fischer und Silvija Hinzmann besorgten deutschen Übersetzung von Miroslav Krlezas Mammutromans. Hinzu kommt ein 138-seitiges Glossar, das die historischen Hintergründe behandelt. Die Kernfrage lautet daher: Lohnt es sich? Schlichte Antwort: Es lohnt sich. Freude wird derjenige daran haben, der die gewaltigen Ereignisse dieses Epochenwandels, des k.u.k.-Untergangs, endlich einmal aus nicht austrozentristischer Perspektive geschildert haben und dabei sein Geschichtswissen erweitern möchte. Dabei ist nicht nur eine Fülle historischer Fakten, sondern auch ein Autor zu entdecken, der getrost zwischen Joseph Roth, Robert Musil und Karl Kraus einzuordnen ist.

Von Anfang an lässt Miroslav Krleza (1893–1981) keinen Zweifel, dass er mit "Die Fahnen" auf das große Ganze zielt, sich dabei aber alle Zeit der Welt nehmen möchte, um politische Feinheiten, sprachliche Verstiegenheiten und gesellschaftliche Dummheiten in allen Details zu schildern.

Ausufernde Opulenz als Anreiz

Der vorwiegend dialogisch aufgebaute Roman gibt Gespräche seiner Protagonisten nicht nur in aller Ausführlichkeit wieder, sondern zitiert auch seitenlang historische Dokumente, zählt endlos Personen oder Gegenstände auf, die unbedingt mit ins Bild gehören, oder schildert minutiös Stimmungen, mit denen sich jene explosive Mischung aus Dekadenz und Revolte nachempfinden lässt, die einen ganzen Kontinent in den Abgrund riss.

Die ausufernde Opulenz ist Programm und macht einen guten Teil des Reizes aus. Wer sich auf das Vorgelegte einlässt, bekommt die Intrigen der kroatischen Politik im Eiertanz zwischen Österreich und Ungarn, die glühenden Freiheitsbestrebungen der an eine jugoslawische Zukunft gemeinsam mit Serbien glaubenden Jugend, die Morschheit einer an Pfründen und Titeln hängenden Klasse und die grenzenlosen Schrecken der Schlachtfelder geschildert. Ein guter Teil des Erzählten dürfte autobiografische Bezüge haben.

Im Mittelpunkt von "Die Fahnen" stehen ein Vater und ein Sohn, beide tragen denselben Namen: Kamilo de Emericki. Der Vater ist ein hochrangiger kroatischer Beamter im Verwaltungsapparat der österreichisch-ungarischen Monarchie. Dass die Kroaten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor allem die Auswirkungen eines 1868 zustande gekommenen ungarisch-kroatischen Ausgleichs bekämpften, der Ungarn bevorzugte, zählt zu den vielen historischen Erkenntnissen, die man von dieser Lektüre mitnimmt. Obwohl jeder Zoll ein Vertreter des alten Geistes, kann sich der Senior im Zuge der Wirren des Zusammenbruchs erfolgreich auf die Seite der Sieger schlagen. Der Junior dagegen ist ein revolutionärer Hitzkopf mit Verbindungen zur serbischen Untergrundbewegung "Schwarze Hand" und schon als Gymnasiast in anti-ungarische Bombenanschläge verwickelt. Als Soldat der k.u.k. Armee wird er zweimal schwer verwundet und ist am Ende der kommunistischen Idee deutlich näher als nationalistischen Idealen.

Paradigmatisch für den Kampf des Alten mit dem Neuen entfalten sich über viele Kapitel die Auseinandersetzungen im Hause Emericki. "Die Fahnen" ist Familienroman und Geschichtspanorama zugleich, ebenso ausufernd wie anmaßend. Dass die Frauen in dem schmalen Katalog seiner Nebenfiguren mit Ausnahme der mütterlichen Geliebten von Emericki jun., nur blass und schematisch bleiben, ist wohl zeitimmanent, dennoch ärgerlich. Dass Südosteuropa auf der literarischen Landkarte der Endwehen der österreichisch-ungarischen Monarchie mit diesem Werk deutlich an Kontur gewonnen hat, ist jedoch ein Verdienst, das nicht hoch genug geschätzt werden kann. (wohu)

 

100 Jahre vor dem literarischen Auge

 

 

Miroslav Krleza: "Die Fahnen", Roman in fünf Bänden plus Glossar, Wieser Verlag. 2012 S., 75 Euro

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26. April 2024