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"Le Sacre": Von den Opfern der Kriege und dem Funken der Hoffnung

Von Karin Schütze   28.Oktober 2019

In eine vom Krieg in Schutt und Asche gelegte Welt und tief in verbrannte Seelenlandschaften führt Ballettchefin Mei Hong Lin das Publikum in ihrem Doppelabend "Le Sacre" – das Opfer –, der zwei Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts vereint: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs schrieb Richard Strauss seine "Metamorphosen", als Klage auf das zerstörte Münchner Opernhaus und ein in Trümmern liegendes Land. Angesichts des heraufdämmernden Ersten Weltkriegs entstand hingegen Igor Strawinskys "Le sacre du printemps", 1913 ein Uraufführungsskandal.

Kein Krieg ohne Opfer – dieser rote Faden zieht sich durch einen emotional ergreifenden und tänzerisch fantastischen Abend, dessen Atmosphäre Dirk Hofacker in seinem aschgrauen, düsteren Bühnenbild einfängt: Ein verdorrter Baum auf verkrustet harter Erde, ein Stacheldrahtzaun für die Nazi-Gräuel. Einmal mehr lässt Mei Hong Lin die Zuseher in eine vielschichtige, dichte Inszenierung eintauchen. Ihr choreografischer Einfallsreichtum findet für jeden Tänzer, jede Tänzerin eigene kleine Geschichten, wie Mosaiksteinchen eines großen Ganzen.

Entmenschlicht und entwürdigt

Besonders im zweiten Teil, "Le sacre du printemps": Jeder Patient des Sanatoriums lässt berührend seine Traumata aufblitzen. Mei Hong Lin erzählt das heidnische Frühlingsopfer eines sich zu Tode tanzenden Mädchens neu: Ein Kind, das, wie ein Tier gehalten, sich schließlich für eines hält, weckt im Holocaust-Überlebenden Adam die schuldbehaftete Erinnerung an seine ermordete Familie (Rutsuki Kanazawa, Alessia Rizzi), der er nicht helfen konnte.

Wie sich Núria Giménez Villarroya als verwahrloste Kind-Kreatur mit katzenhafter Geschmeidigkeit über die Bühne bewegt, dabei jedes ihrer Glieder bis zu den einzelnen Zehen verrenkt, ist atemberaubend. Auch Valerio Iurato beeindruckt als Adam, dessen Entmenschlichung Vincenzo Rosario Minervini als von den Nazis gequälter "Adam der Erinnerung" erschütternd vermittelt. Die Vergangenheit lebt in der Gegenwart fort, parallel erzählt auf zwei Bühnenebenen. Macht und Unterdrückung wiederholen sich auch in der Liebesbeziehung mit einer Krankenschwester (Mireia González Fernández). Dieses beklemmende Szenario treibt das Bruckner Orchester Linz – hundertköpfig in Strawinskys Originalbesetzung – unter seinem Chefdirigenten Markus Poschner spannungsgeladen voran, mit pochenden Rhythmen und scharfen Dissonanzen – bis zum finalen Opfer, diesmal von einem Freiwilligen für einen Einzelnen und das Leben.

In eine musikalisch ganz andere Welt führen Strauss’ "Metamorphosen", mit 46 Streichern doppelt besetzt. Wie ein nie abreißender, schwelgender Klangfluss tragen sie das brodelnde Geschehen mit sich fort, umspülen die Tänzer in immer neuen Variationen: Im besetzten Frankreich 1940 entspinnt sich zwischen den feindlichen Fronten eine verbotene Liebe, die zum Opfer ihrer Umstände wird. Lara Bonnell Almonem und Nimrod Poles lassen als "Sie" und "Er" leidenschaftliche Sehnsucht und quälenden Verzicht spürbar werden. Kayla May Corbin und Valerio Iurato stehen als "Paar" stellvertretend für viele, deren Glück an der uniformierten Macht (Filip Löbl, Andrea Schuler, Shang-Jen Yuan) zerschellt.

Beifallsstürme für eineinhalb Stunden tänzerische wie musikalische Glanzleistungen.

Fazit: Ein herausfordernder, großartiger Abend, der lange nachwirkt.

Zwei Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts

  • „Le sacre du printemps“: 1913 in Paris uraufgeführt, geriet Igor Strawinskys Auftragswerk für die Ballets Russes zum Skandal. Die ekstatisch stampfenden Tänzer und das mit Hörgewohnheiten brechende polyrhythmische Werk schieden die Geister. Die Polizei berichtete von 40 Verhafteten und 27 Verletzten nach der Aufführung. In rein musikalischer Fassung wurde das Werk jedoch ein Jahr später in Paris unter großem Jubel aufgeführt.
  • „Metamorphosen“: Richard Strauss’ letztes großes Orchesterwerk für 23 Solostreicher wurde 1946 in Zürich unter der Leitung seines Widmungsträgers Paul Sacher uraufgeführt. Strauss schrieb sein Werk unter dem Eindruck des zerstörten Münchner Opernhauses, seiner langjährigen Wirkungsstätte. „Ich bin verzweifelter Stimmung“, schrieb er 1945. „Meine Werke werde ich auf dieser Welt nicht mehr hören und sehen.“
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