Eine verratene Familiengeschichte
In ihrem Romandebüt arbeitet Lea Draeger die komplizierte Geschichte einer tschechischen Familie auf
Die vielseitig begabte Lea Draeger ist Schauspielerin am Berliner Maxim-Gorki-Theater, bildende Künstlerin und Autorin. Hauptfigur und Ich-Erzählerin in ihrem viel beachteten Debütroman "Wenn ich euch verraten könnte" ist eine Frau, die im Alter von dreizehn Jahren das Essen verweigert und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Ihre schwere Erkrankung gibt den Anstoß zum kritischen Rückblick auf die Familiengeschichte.
Die Familie ist 1968 aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet. Sie wurde von den herrschenden Kommunisten verfolgt und fühlte sich vom eigenen Land verraten. Dennoch bleiben Gefühle und Haltungen ambivalent. Der Großelterngeneration gelingen der harte Bruch mit der tschechischen Herkunft und die volle Integration in Deutschland nicht. Zu stark wirken bittere Erinnerungen an die verhasste deutsche Besatzung während des Nationalsozialismus. Beklemmend ist das Eingangsbild: Der damals zwölfjährige Großvater umklammert verzweifelt seinen Vater, der sich soeben erhängt hat. Die Frauen widersetzen sich den Macht- und Gewaltstrukturen kaum, sie sind eher geduldige Mitspielerinnen des Patriarchats, dort und da auch Komplizinnen.
Hauptmotiv ist das Schweigen, das den doppeldeutigen Titel "Wenn ich euch verraten könnte" inspiriert haben dürfte. Das Schweigen über die Missstände zu brechen, würde als Verrat verurteilt. Lea Draeger verzichtet auf einen stringenten Handlungsaufbau. Sie arbeitet mit Zeitsprüngen, lose verbundenen Episoden. Vieles bleibt fragmentarisch, und man darf bezweifeln, dass alle thematischen Wiederholungen gewollt sind. Eine Stärke des Texts sind teils expressive, teils pointierte Bilder, die bisweilen drastisch ausfallen. Die vorangestellte Warnung vor "expliziten Schilderungen psychischer und physischer Gewalt" mag man überflüssig finden, falsch ist sie aber nicht.
Lea Draeger: "Wenn ich euch verraten könnte", Hanser, 288 Seiten, 23,70 Euro
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