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Der Grenzüberschreiter

Von Christian Schacherreiter   12.Juni 2021

Zur Frage, wer dieser H. C. Artmann "wirklich" war, wird man keine eindeutige Antwort finden. Zu sehr liebte er Rollenspiel, Verkleidung und Maskerade. Die Freiheit und Schönheit des schöpferischen Akts war das einzige Credo seiner Dichtkunst, nachzulesen in seiner "Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes" (1953): "Der poetische Act ist Dichtung um der reinen Dichtung willen."

Artmanns Freude am Grotesken und Absurden, an gebrochener Grammatik und gebrochenen Tabus war nicht nur Stilprinzip, sondern auch Lebensstil. Die erste Artmann-Lesung, die ich als junger Germanist hörte, dauerte keine fünf Minuten. Artmann rezitierte drei Gedichte, dann stockte er plötzlich. Was ihn störte oder verärgerte, war nicht zu erkennen. Jedenfalls stand er auf, sagte grimmig "Danke, ich suche mir eine andere Arbeitsstelle" und verschwand. Das volle Wasserglas nahm er mit. Der Veranstalter wusste, warum. Es war mit Schnaps gefüllt.

Ein Sprachgenie

An Artmann-Anekdoten ist kein Mangel, er trug selbst gerne zu ihrer Vermehrung bei. Sie verstellen manchmal den Blick auf eine herausragende Dichterpersönlichkeit. Die Vokabel Sprachgenie ist bei ihm keine Übertreibung.

Hans Carl Artmann wurde am 12. Juni 1921 in Wien als Sohn eines Schusters geboren. 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, wo er sich durch Desertation in Lebensgefahr brachte. Im kulturellen Leben der Nachkriegsjahre gehörte er zur Künstlergeneration, die an jene Moderne anknüpfte, die von Nationalsozialisten als "entartete Kunst" missbilligt und verboten worden war. Surrealismus und Dadaismus waren bevorzugte Richtungen und gaben wesentliche Anregungen für neue künstlerische Wege. Zum wirkungsvollsten Forum der Avantgarde wurde die "Wiener Gruppe", zu der neben Artmann auch Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener gehörten.

Berühmt wurde H. C. Artmann durch seinen Gedichtband "med ana schwoazzn dintn" (1958), in dem er die Literaturfähigkeit des Dialekts unter Beweis stellte und die konservative und nationale Tradition der Heimatdichtung konterkarierte. Der makabre Satz "i bin a ringlgschbüübsizza / und hob scho sim weiwa daschlong" wäre in einem Gedicht von Weinheber kaum vorstellbar.

In den Sechzigerjahren lebte H. C. Artmann einige Jahre in Schweden und brachte von dort ein bizarres Werk mit: "das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. eintragungen eines bizarren liebhabers".

Artmann nannte es ein "Tagebuch", es hat aber mit der bekannten autobiografischen Textsorte nur wenig zu tun. Nach einer weiteren Zwischenstation in Berlin wurde der reisefreudige Autor 1972 in Salzburg sesshaft. Seine künstlerische Produktivität blieb bis in die frühen Neunzigerjahre ungebrochen. Nicht zuletzt war der in mehreren Sprachen bewanderte Artmann auch ein hervorragender Übersetzer. Die Kunst der Grenzüberschreitung beherrschte er wie kein Zweiter – in jeder Hinsicht. H. C. Artmann starb am 4. Dezember 2000.

  • Lesetipps: "The Best of H. C. Artmann", Suhrkamp, 392 Seiten, 14,90 Euro "Med ana schwoazzn dintn", O. Müller Verlag, 95 Seiten, 22 Euro Marc-Oliver Schuster, Veronika Premer: "H. C. Artmann. Eine Biographie", Residenz, 504 Seiten, 28 Euro.
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28. März 2024