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Der "Erzähler der Nation" wird heute 70

Von Christian Schacherreiter   15.Oktober 2019

"Die Wahrheit ist ein Kind der Zeit, nicht der Autorität." Für die Literaturkritik gilt Bertolt Brechts oft zitierter Satz mehr als für manch andere Unternehmung des menschlichen Geistes. Wendelin Schmidt-Dengler, bis zu seinem Tod 2008 die unumstrittene Autorität in Sachen österreichische Literatur, polemisierte in den Neunzigern noch gegen die "Herren Köhl- & Ransmayr", die seiner Ansicht nach vom Weg der Moderne abgekommen und zum traditionellen Erzählen konvertiert waren. Und wenn Michael Köhlmeier von seinen Anfängen als Autor erzählt, dann spricht er auch von seiner Verunsicherung als Student der Germanistik in Marburg. Die progressive deutsche Literaturwissenschaft verkündete um 1970 den endgültigen "Tod des Erzählens", und Köhlmeier, der Student aus Vorarlberg, dachte besorgt: "Meine Güte, was soll das werden, ich kann doch nichts anderes!" Und wie er es kann!

Schon in seinem Debütroman "Spielplatz der Helden" (1988) zeigten sich jene Qualitäten, die den Erzähler Michael Köhlmeier zu einem der besten und erfolgreichsten Autoren der Gegenwart machen. Köhlmeier ist ein Schriftsteller für existenziell anrührende Themen. Auch wenn er von etwas Außergewöhnlichem, gar nicht Alltäglichem erzählt, im Fall seines Debütromans von drei Männern, die Grönland überqueren, bleibt er auf dem Boden unserer Lebenserfahrung. In "Spielplatz der Helden" macht er anhand einer Extremsituation erkennbar, wie wir Menschen ticken. Köhlmeiers Werkliste ist sehr lang, und die Frage, ob man darauf so etwas wie ein "Opus magnum" findet, ist schwer zu beantworten.

Stilistischer "Sound"

Der Roman "Abendland" (2007) ist aber ein heißer Tipp. Ein weiterer Grund dafür, dass Michael Köhlmeier so viele treue Leser findet, ist sein stilistischer "Sound". Man merkt seiner Sprache an, dass er auch singen und Gitarre spielen kann. Am deutlichsten wird diese Qualität in der Mündlichkeit, in der ursprünglichen Geste der Mitteilung. Aus gutem Grund verdankt Köhlmeier einen Teil seiner Popularität dem originellen Modus, in dem er Mythen und Märchen nacherzählend interpretiert. Diesem Mann hören wir einfach gerne zu.

Michael Köhlmeier hat in den vergangenen Jahren auch durch Kommentare zum tagespolitischen Geschehen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Menschen und Medien, die seine Meinungen teilen, neigen daher dazu, ihn zum "Gewissen der Nation" zu erheben. So begrüßenswert es ist, wenn Künstler und Intellektuelle, denen die "Res publica" ein Anliegen ist, öffentlich Stellung beziehen, so problematisch ist es, eine allzu elitäre Sonderrolle daraus abzuleiten. Die Kulturgeschichte des "Gewissens der Nation" ist auch eine Geschichte vieler Irrtümer. Zu sehr ist die Wahrheit ein Kind der Zeit, nicht der Autorität.

Michael Köhlmeier weiß es. Er ist klug und redlich genug, um verantwortungsvoll damit umzugehen. "Erzähler der Nation" ist eindeutig der schönere Heldentitel.

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29. März 2024