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Digitale Zügellosigkeit. Setzen wir uns zur Wehr!

Von Gerald Mandlbauer   16.Juni 2017

Auf Straßen und Wegen würde es keine Regeln geben, in Städten und Dörfern anstelle von Zivilisation das Recht des Stärkeren. Aufklärung und der Glaube an die Vernunft lägen noch vor uns, die Verschwörungstheorien hätten ihre Blütezeit, viele von uns würden vermummt sein, das Recht auf Eigentum und Urhebertum würde permanent gebrochen, wer andere beleidigt, müsste keine Verfolgung fürchten. Es gäbe wieder Lynchjustiz und daneben den Pranger, also tiefstes Mittelalter. Wo sie sich ballen, würden die Leute, bar jeden Respektes voreinander, alle Höflichkeit fahren lassen und sich komplett dem Obszönen und Absonderlichen hinwenden.

So utopisch diese Zeitreise ist, so real ist doch eine solche Welt wie oben beschrieben. Sie entspricht den Lebens- und Verhaltensweisen in der modernen Gegenwelt des Digitalen. Wir haben uns von diesem ungeheuren Freiheitsraum eine schranken- und herrschaftslose Welt erwartet, eine Fortschrittsgeschichte (die das Internet ja überwiegend ist). Allein wir Menschen können mit der Rasanz, mit der sich die Dinge entwickeln, nicht Schritt halten. Und dementsprechend orientierungslos und zügellos verhalten wir uns.

Hass, Denunziation, Verschwörungstheorien landen auf jedem Familientisch. Es ändern sich die Umgangsformen. Die ungeheuren Verbreitungsmöglichkeiten kehren die Schattenseiten der menschlichen Psyche nach außen: Voyeurismus, Schadenfreude, Neid, Eifersucht, Irrglaube, alles wird im Netz öffentlich bedient. Wir haben es mit einer Massenflucht aus der Konvention und der Konversation zu tun, wenn wir Menschen beobachten können, wie sie lieber in zwei Bildschirme starren als einander in die Augen. Heute klickt der Mob beim Shitstorm, das fieberhafte Suchen nach Verfehlungen und das Denunzieren ist zum Volkssport geworden.

Reinheitsgebot für Facebook

Alles Stereotype, Klischees, Zuspitzungen – und doch sind die oben beschriebenen Zustände die Wegbegleiter einer digitalen Revolte, mit der unsere gewohnten menschlichen Kulturtechniken nicht mitkommen. Das ist neu, und daher widmen die führenden Bundesländerzeitungen dieser Herausforderung in den nächsten Tagen einen großen Themenschwerpunkt.

Es geht um Problembewusstsein. Zwar ist es unserer Art noch bei jedem technologischen Sprung gelungen, neue Techniken nicht nur zu erlernen, sondern bald derart zu beherrschen, dass der Nutzen der Neuerung die damit verbundenen Nachteile überstiegen hat. Smartphones, das digitale Netz und die Millionen dort angebotenen Applikationen machen uns diese Anpassungsleistung schwer wie nie zuvor, weil das Tempo, mit der sie unser Leben auf den Kopf stellen, derart hoch ist.

Verbindliche Regeln und Netzgesetze, wie sie allerorten debattiert werden, können ein Rahmen dafür sein, das Netz beherrschen zu lernen. Doch es muss mehr folgen. Die größten und mächtigsten Plattformen müssen gezwungen werden, ihrer Rolle entsprechend zu agieren. Facebook als größtes Medium weltweit muss akzeptieren, dass es ein Medienunternehmen ist, und seine Plattform daher sauber halten. Es muss journalistische Verantwortung übernehmen.

Wir brauchen digitale Zivilcourage. Menschenverachtung muss als solche bezeichnet werden, unsere Institutionen – Politik, Medien, Richter – müssen geschätzt und geschützt werden, und es muss neben den dazugehörigen Regeln auch ein Verständnis für Umgangsformen geben, die jenen im realen Leben entsprechen. „Klagen, klagen, klagen“, empfahl Österreichs Bundespräsident für den Fall, dass in der digitalen Gegenwelt die Dinge aus dem Ruder laufen.

Trösten wir uns nicht mit dem Hinweis, dass es Lüge, Verschwörungstheorien, Hass und Denunziation immer schon gegeben hat. Akzeptiert. Aber nie zuvor war jedem von uns die Möglichkeit gegeben, die digitale Stänkerei millionenfach zu multiplizieren. Noch ist nicht ausreichend erforscht, was Facebook mit uns macht.

Die gesellschaftliche Mitte, in der die Verschwörung und die Hetze angekommen sind, muss beginnen, sich zu wehren. Diese Abwehrhaltung muss an jedem Knoten des Netzes beginnen. Das Netz ist großartig. Daher darf es nicht den Trollen überlassen werden. Es braucht Hausregeln und ein paar einfache Verhaltensregeln. Wir könnten – wie im echten Leben auch – der digitalen Sprache mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wir könnten damit aufhören, ein irreales Bild von uns zu zeichnen. Wir sollten wieder erlernen, Achtung voreinander zu zeigen. Wir sollten Lüge als Lüge benennen, Hass und Verschwörung enttarnen und die Widerrede mit aller Macht in die sozialen Kanäle zurückspülen. Es geht um Respekt voreinander. So einfach – und doch so schwer.

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