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Der irische Blut-Sonntag

Von Klaus Huber, 28. Jänner 2012, 00:04 Uhr
Der irische Blut-Sonntag
Überdimensionale Fassadenbilder im Wohngebiet „Bogside“ erinnern an die schreckliche halbe Stunde. Bild: Huber

Ab den 1960er-Jahren leidet Nordirland jahrzehntelang unter einem brutal ausgetragenen Konflikt, der als „The Troubles“ in die Geschichte eingeht. Am Blutsonntag vor vierzig Jahren werden 14 Demonstranten von Soldaten erschossen.

Britisches Understatement bezeichnet mit den „Troubles“ (Schwierigkeiten) Jahrzehnte der Gewalt zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten. Doch es scheint nur ein Kampf zwischen Katholiken und Protestanten zu sein, tatsächlich ist es eine eminent politische Auseinandersetzung. Das tödliche Geflecht von Religion und Machtstreben fordert in rund 30 Jahren mehr als 3500 Todesopfer, darunter fast 1900 Zivilisten. Vor vierzig Jahren entladen sich die „Troubles“ im irischen Blutsonntag, „Bloody Sunday“ – der Auftakt für immer grausameres Morden in den Folgejahren.

Schauplatz ist die nordirische Stadt Londonderry. Das Protokoll: Sonntag, 30. Jänner 1972, 14:50 Uhr: Rund 10.000 Menschen versammeln sich in Londonderrys Wohnviertel Creggan, um gemeinsam zur Guildhall, dem Sitz des Stadtrates, zu ziehen. Die Nordirische Bürgerrechtsbewegung protestiert mit diesem – behördlich nicht genehmigten – Demonstrationszug gegen die Internment-Politik der nordirischen Regierung unter Brian Faulkner in Belfast. Seit August 1971 können katholische Republikaner ohne Gerichtsverfahren interniert werden.

Eliteeinheit eröffnet das Feuer

15:45 Uhr: Mit Barrikaden verwehrt die Armee den Marschierenden den Zugang zum Stadtzentrum. Der Zug wird umgeleitet in die Rossville Street und in die William Street. Einzelne werfen Steine auf Soldaten, diese antworten mit Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern. Zwei Männer werden verwundet.

16:05 Uhr. Eine Einheit des 1. Fallschirmjägerregiments, Elitetruppe der britischen Armee, erhält den Befehl, so viele Demonstranten wie möglich festzunehmen. Fünf Minuten später wird geschossen. 16:40 Uhr: Nach einer halben Stunde sind 13 Demonstranten, darunter sechs 17-Jährige, tot und 13 weitere verwundet. Ein Mann erliegt später seinen schweren Verletzungen. Fünf der Toten waren von hinten erschossen worden.

In allen Einvernahmen behaupten die Soldaten, zuerst sei auf sie gefeuert worden, dann erst hätten sie zurückgeschossen. Marschteilnehmer wie Zeugen berichten das Gegenteil: Die Armee habe auf unbewaffnete Zivilisten geschossen.

Besonders ein „Bloody Sunday“-Pressefoto ist unvergesslich: Ein Priester winkt mit einem blutbefleckten weißen Taschentuch, während Jackie Duddy weggetragen wird. Es wird zur Vorlage für eines der Bogside-Wandgemälde. Pater Edward Daly, 39, war damals Pfarrkurat an der St. Eugene-Kathedrale in Derry. Er stand direkt neben dem 17-jährigen Jackie Duddy, als dieser von Kugeln getroffen wurde. „Wir wollten ihm helfen. Ich betete mit ihm, gab ihm die letzte Ölung und die Sterbesakramente“, erzählte er. „Wir wollten ihn in Sicherheit bringen. Ich ging voran mit diesem Taschentuch in der Hand und sie trugen Jackie hinter mir. Die Hölle war los. Wir hatten schreckliche Angst, und als wir ihn auf den Gehsteig legten, war er schon tot.“ Daly wird später Bischof von Derry.

Die britische Regierung ordnet eine Untersuchung an. Das „Widgery Tribunal“ kam 1972 zu dem Ergebnis, es liege kein Fehlverhalten britischer Soldaten und Behörden vor, wenngleich der Vorsitzende, Baron John P. Widgery, wenigstens einräumt, die Soldaten hätten „beinahe fahrlässig“ geschossen.

Premierminister John Major erklärt bereits 1974, „dass alle, die am Bloody Sunday gestorben sind, unschuldige Menschen sind – unabhängig davon, ob sie Schusswaffen oder Bomben dabei hatten, als sie erschossen wurden.“ Doch erst 1998 wird Lord Saville of Newdigate von Premierminister Blair mit einer neuen gründlichen Untersuchung betraut. Saville ist unvoreingenommen und akribisch genau, er sichtet alle Dokumente, befragt unzählige Beteiligte und Zeugen. Erst nach 12-jähriger Arbeit legt er seinen über 5000 Seiten dicken Bericht vor. Die exorbitanten Gesamtkosten von fast 200 Millionen Pfund verschlagen den Briten die Sprache; noch mehr allerdings seine Erkenntnisse. Sie veranlassen Premierminister David Cameron zu einer historischen Rede am 15. Juni 2010: Das Vereinigte Königreich entschuldigt sich offiziell für das Verhalten seiner Soldaten. Cameron beschönigt nichts. Seine wichtigsten Aussagen: „Was am Bloody Sunday geschah, ist durch nichts zu rechtfertigen ...“: „Man verteidigt die britische Armee nicht, indem man verteidigt, was nicht zu verteidigen ist. … Wir dürfen uns nicht vor der Wahrheit verstecken ...“. Was in Londonderry geschah, war der Kulminationspunkt einer fatalen Entwicklung. Seit 1969 hatte sich die Situation in Nordirland gefährlich zugespitzt. Drei Tage vor Bloody Sunday wurden von der (katholischen) IRA erstmals zwei britische Polizisten erschossen, einer davon sogar ein Katholik.

In den Folgemonaten wagte sich kein Polizist, kein Soldat mehr in ein Gebiet, das ein Drittel der Stadt Londonderry umfasste. 1972 wurde mit fast 500 Todesopfern zum blutigsten Jahr in der Geschichte Nordirlands. Was am Bloody Sunday geschah, stärkte die IRA, steigerte die Feindseligkeit gegenüber der Armee und verschärfte den Konflikt für viele Jahre, stellte Lord Saville fest. Bloody Sunday war eine Tragödie für die Hinterbliebenen und die Verwundeten, eine Katastrophe für Nordirland. Seit dem „Bogside Massaker“, wie die schreckliche halbe Stunde nach dem Wohngebiet Bogside auch genannt wird, marschierten alljährlich am 30. Jänner zum Jahrestag Tausende durch Londonderry, um der Opfer zu gedenken. Nach David Camerons Entschuldigung, soll dieser Marsch nicht mehr durchgeführt werden.

Der Schauplatz

Derry – oder Londonderry? Die Stadt am Fluss Foyle, in seinem Oberlauf auch Grenzfluss zwischen der Republik Irland und Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört, wurde 1604 in einer Charter von König James I. als „a city fit for war and merchandise“ bezeichnet (= geeignet für Krieg und Handel) und erhielt offiziell den Namen „Derrie“, der auf das irische Wort „daire“ zurückgeht (= Eichenhain). Bereits 1613 wurde „London“ als ehrende Zusatzbezeichnung angenommen, als Dank für die Spenden von Londoner Handelsfirmen für den Bau der neuen Stadtmauern. Das führt 400 Jahre später noch zum Zwist: Nordirland nennt die Stadt „Londonderry“, denn es bekennt sich politisch zu London, zum Vereinigten Königreich. In der seit 1937 vom Vereinigten Königreich unabhängigen Republik Irland wird die Stadt dagegen ausschließlich „Derry“ genannt.

Erinnerungen

In einer beklemmenden Interview-Serie ließ Freya McClements Beteiligte und Hinterbliebene zu Wort kommen. JohnKelly erzählte über seinen jüngeren Bruder Michael: „Seine Hauptinteressen waren Tauben, Musik und seine Freundin. Er war zwar ‚schon‘ 17, dennoch fragte er als wohlerzogener Sohn seine Mutter um Erlaubnis, an dem Marsch teilnehmen zu dürfen – und wir überredeten sie, ihn mitgehen zu lassen. … Meine Mutter folgte ihm, sie wollte aufpassen. Dann sah sie, wie Soldat F. ihn von hinten erschoss … Ja, wir wissen sogar, wer es getan hat.“

Zerbrechlich

Bleibt der Friede ein dauerhafter? Rückschläge geben Anlass zu Zweifel und Sorge. Erst vor wenigen Tagen, am 19. Jänner, explodierten mitten in Londonderrys Innenstadt wieder zwei Bomben, neben einem Einkaufszentrum und neben einer Polizeiwache. Bombenleger waren vermutlich (fast durchwegs katholische) Republikaner, Extremisten der sogenannten „Real IRA“, sagt die nordirische Polizei. Tatzeitpunkt war spät nachts, niemand wurde verletzt, doch die Warnung kam an. Streitthema ist ausgerechnet ein Kulturereignis, das der Versöhnung dienen könnte: Da Londonderry 2013 „UK City of Culture“ (Kulturhauptstadt des Vereinigten Königreichs) sein wird, sollte das traditionsreiche irische Musikfestival „The Fleadh“ erstmals als gesamtirisches Fest in Nordirland abgehalten werden. Was für eine Chance für Gemeinsamkeit, den Frieden – sie ist vertan. Und solange Denkmäler mitten in der Stadt den Rachegedanken verherrlichen, wird dieser wohl kaum aus den Köpfen zu tilgen sein: „Let our revenge be the laughter of our children“ – sinngemäß: Unsere Kinder sollen sich über unsere Rache freuen können.
 

„Sunday Bloody Sunday“

Viele Künstler haben sich des Themas angenommen, in Filmen (etwa von Regisseur John Schlesinger), Gedichten, Liedern. Die irische Musikgruppe U2 präsentierte erst 1983 ihren Song „Sunday Bloody Sunday“ und löste damit Kontroversen aus. Der aus Dublin stammende U2-Leader Bono musste immer wieder erklären, dass er mit diesem Song – mittlerweile vom einflussreichen Musikmagazin „Rolling Stone“ auf Rang 272 unter die „500 Greatest Songs of All Time“ gereiht – nicht einseitig Partei ergreifen wolle.
Paul McCartney, teils irischer Abstammung, hatte schon kurz nach der Tragödie seine Solo-Single „Give Ireland Back to the Irish“ (Gebt Irland den Iren zurück) veröffentlicht. Besondere „Ehre“ für ihn: Die BBC setzte dieses Lied auf ihre Verbotsliste. Es durfte in ihren Programmen nicht gespielt werden. Der eindringlichste Text stammt von John Lennon, der ebenfalls irische Vorfahren hatte; sein Großvater wurde 1858 in Dublin geboren. Gemeinsam mit Yoko Ono sang Lennon schon 1972 in New York „Sunday Bloody Sunday“:

Well it was Sunday bloody Sunday When they shot the people there The cries of thirteen martyrs Filled the Free Derry air Is there any one amongst you

Dare to blame it on the kids? Not a soldier boy was bleeding When they nailed the coffin lids! You claim to be majority Well you know that it’s a lie You’re really a minority On this sweet emerald isle When Stormont bans our marches They’ve got a lot to learn Internment is no answer It’s those mothers’ turn to burn! You anglo pigs and scotties Sent to colonize the North You wave your bloody Union Jack And you know what it’s worth! How dare you hold to ransom A people proud and free Keep Ireland for the Irish Put the English back to sea!

Well, it’s always bloody Sunday In the concentration camps Keep Falls Road free forever From the bloody English hands Repatriate to Britain All of you who call it home Leave Ireland to the Irish Not for London or for Rome! Sunday bloody Sunday Bloody Sunday’s the day!

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2  Kommentare
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sting (7.357 Kommentare)
am 29.01.2012 11:13

Medien öfters, dass sinnverfälschend übersetzt wird.

Beim ORF fällt mir leider in letzter Zeit immer häufiger auf, dass bei fremdsprachigen Interviews die Antworten in Richtung der Suggestivfragen übersetzt werden.

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stahlstadtmaedel (21 Kommentare)
am 29.01.2012 10:58

Der Autor schreibt: "Und solange Denkmäler mitten in der Stadt den Rachegedanken verherrlichen, wird dieser wohl kaum aus den Köpfen zu tilgen sein: „Let our revenge be the laughter of our children“ – sinngemäß: Unsere Kinder sollen sich über unsere Rache freuen können."
Also: Übersetzt heißt das: Lassen wir unsere Rache das Lachen unserer Kinder sein. Und das lässt sich wohl auch ganz anders deuten. Kinderlachen statt Bomben.

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