Zeitreise ins Glasland Böhmen
Die traditionsreiche tschechische Glasmanufaktur zieht mehr und mehr Touristen an. Einige renommierte Markennamen erinnern an die Zeit vor 1945.
Ausgangspunkt einer Reise zum böhmischen Glas ist natürlich die Hauptstadt Prag. Nicht nur wegen Karlsbrücke, Wenzelsplatz und Hradschin – wo jährlich sechs Millionen Touristen kommen, siedeln sich auch die Glas- und Schmuckverkäufer an. Jene die traditionelle Glasarbeit (einfache bemalte, gravierte Gläser) anbieten, jene die auf Kitsch setzen, dann die großen international agierenden Industrieproduzenten, am oberen Ende die renommierten Marken: etwa Moser und Egermann.
Wir starten in der Sales Gallery Moser am Altstädter Ring, es ist Luxusware zu sehen – Tischsets, Kristallglas, erdacht von Designern mit Namen. Kühles, modernes Design, dann wieder Traditionelles wie gravierte, feinst bemalte Kelche oder Vasen. Das nahe Museum Moser ist die erste Station der Zeitreise: Ein Ludwig Moser, wie der Name sagt, ein Deutschböhme, hat 1857 in Karlovy Vary (Karlsbad) das Unternehmen gegründet und unter anderem mit seiner bleifreien Kristallherstellung weltweit Furore gemacht. Kaiser Franz Joseph, Briten-König Edward und der Schah von Persien gehörten zu den Kunden. In den 1920er-Jahren war Moser der größte Luxusglas-Produzent der Tschechoslowakei. 1934 ging die Firma an die Prager Unionbanka, die Nazis arisierten diese nach dem Einmarsch, nach dem Krieg kam die Verstaatlichung.
Havel wirkt nach
Individueller ist die Galerie von Tony Manto. Der Künstlertyp arbeitet an der Grenze zwischen Kunst und Handwerk: Weingläser, deren Stiel einer Schlingpflanze gleicht; Karaffen in Insekten- oder Fischform. Er schafft es jedes Mal, den Gedanken an Kitsch nicht aufkommen zu lassen. Der 56-Jährige Manto, zu dessen Kunden Hillary Clinton oder Morgan Freeman gehören, ist offenbar einer von denen, die den Geist des Wende-Präsidenten Vaclav Havel weiterleben lassen: lockeres Auftreten, gerne längeres Haar, deutlich westlich, mit Vorliebe angloamerikanisch orientiert.
Von ähnlichem Geist geprägt ist auch das Hotel Karlov auf der Prager Kleinseite. Boutiquehotel ist wohl die Kategorie, in der die in Neubarock gehaltene einstige Residenz wohlhabender Familien gehört. Jedes Zimmer ist einem anderen Künstler, Pop-, Rock- oder Blues-Star gewidmet. Meines dem britischen Alt-Rocker Sting: Die Minibar ist in einen Regalkomplex integriert, der das Porträt Stings samt der darüber verewigten Karrieregeschichte des Künstlers wie eine Art Hausaltar wirken lässt. Sonst fällt das Klarov, inzwischen von der tschechischen Asten-Gruppe gekauft, durch (in Vor-Wendezeiten unbekannte) betonte Freundlichkeit des Personals auf.
Bemaltes Fenster im Rathaus von Liberec
In Sazava, einer Kleinstadt 40 Kilometer südöstlich von Prag, setzen wir unsere Zeitreise fort. Auch ist es wieder ein prägender Name, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Erfindung Arbeit und Wohlstand gebracht hat. Franz Kavalier hieß der Mann, der als erster Glas produzierte, das gegen Chemikalien resistent war. Das Unternehmen steht heute im Verbund mit Bohemia Cristal. Die Kommunisten hatten nach ihrer endgültigen Machtübernahme 1948 die kleinen und großen privaten, enteigneten Glashütten und Handelsfirmen zu mehreren Staatskonzernen zusammengeführt.
Reine Kunst mit Glas
Für Besucher interessant ist das Glaskunstzentrum, das den aktuellen Stand des kreativen Umgangs mit dem transparenten Material zeigt. Manche Glasplastiken spielen mit der Wirkung des Lichts auf das geschliffene Material, manche mit mehrschichtig verschiedenfarbigem Glas, andere sind von Malern der Moderne wie dem Spanier Miro beeinflusst. Hier fällt der Name Rene Roubiceks, des 95-jährigen, noch immer aktiven Glaskünstlers, der abstrakte Formen und die Kunst um der Kunst willen durchgesetzt hat. Es gehört zu den positiven Seiten, die man hier noch an den Kommunisten sieht, dass sie diesen Trend gefördert haben. Aus Sazava, zu Deutsch Sasau, stammte auch Gustav Heller, der mit seinem Bruder Wilhelm in Wien als Fabrikant angenehm lutschbarer Zuckerl Erfolg hatte. Der Allroundkünstler Andre Heller ist eine Nachfahre von Wilhelm.
Moderne Glasinstallation von Lasvit im historischen Gewölbe
Zwischenstation in Kutna Hora, früher auch Kuttenberg, im Spätmittelalter durch Silberbergbau wohlhabendste und zweitgrößte Stadt Böhmens geworden, zweite Residenzstadt der böhmischen Könige. Münzstadt, aus der der "Prager Groschen" kam. Die alte Residenz hat man schon vor 120 Jahren vor dem Verfall gerettet, Museumsbesucher dürfen selbst mit dem schweren Hammer eine Münze schlagen. Gar nicht so leicht.
Die Kirchen im Ort sind, angesichts von 70 Prozent Atheisten und nur zehn Prozent Katholiken im Land, weniger Bet- als Schauhaus und für den ursprünglichen Zweck zu groß. Die Kirche Mariä Himmelfahrt wirkt wie eine französische Kathedrale. Auch die Barbara-Kirche für die Bergleute geht in diese Richtung. Ein Kuriosum ist das Beinhaus: In dem Kellerraum lagern Pyramiden, hängen Wappenbilder und ein Luster, geformt aus 40.000 menschlichen Knochen. Alle wollten damals auf dem Friedhof hier begraben werden, weil angeblich Erde vom Hl. Grab in Jerusalem verstreut worden war.
Noch eine Station, ehe wieder das Glas im Mittelpunkt steht. Schloss Sychrov, bis 1945 im Besitz der während der französischen Revolution geflüchteten Herzogs- und Fürstenfamilie Rohan. Der Staat hat ein Rohan-Familienmuseum mit einer Ahnengalerie eingerichtet. Die Rohans haben auf Rückerstattung verzichtet. Die letzte noch lebende einstige Schlossbewohnerin, jetzt in den Achtzigern, will auch nicht mehr zurück. Zu schwer drücken die Erinnerungen an die Umstände der Vertreibung. Ihr Verwandter aus dem österreichischen Zweig, Albert Rohan, war jahrzehntelang Spitzendiplomat für Österreich.
Wieder zu Glas, Stein und Schmuck: Turnov, auf deutsch Turnau, ist ein Zentrum für Glas- vor allem aber Granatschmuck. Die roten Steinchen werden mühsam ausgegraben und entfalten im Schliff ihre Pracht. Eine Ausstellung ist am Stadtplatz zu sehen.
Gablonz: Reiche Sammlung
Jablonec nad Nisou ist unser nächstes Ziel, Österreichern und Deutschen als Gablonz (an der Neisse) bekannt. Das Gebäude des Glas- und Juwelenmuseums stammt noch aus der altösterreichischen Zeit. Es ist das an Ausstellungsstücken reichste Museum seiner Art und zeigt die Entwicklung der Glaskunst und -industrie von den Anfängen im Spätmittelalter bis heute. Die lokalen Produzenten haben im Ort einen Verkaufsraum eingerichtet, in dem Modeschmuck in allen Varianten angeboten wird.
Arbeit in einer böhmischen Glashütte um 1670
In Novy Bor, Deutsch: Haida, steht mit Crystalex der Nachfolgebetrieb des früheren staatlichen Glaskombinats, jetzt in privaten tschechischen Händen und der größte Trinkglas-Hersteller des Landes. Individuelle Arbeit für spezielle Kunden liefert eine Dreiviertelstunde entfernt Ajeto Glas in Lindava. In der kleinen Glashütte, die in Betrieb besucht werden kann, entstehen Einzelstücke wie kunstvolle Glaspokale für internationale Tennisbewerbe – oder etwa eine Glasskulptur mit den dicken Lippen von Mick Jagger.
In die Zukunft führt uns die letzte Station der Zeitreise zum böhmischen Glas: Luster, die wie leuchtende gläserne Fahnen aus zehn Metern herabwehen; riesige Glasinstallationen, die nach einer digitalen Dramaturgie bewegt werden – was die Designer von Lasvit machen, ist vor allem im Nahen und im Fernen Osten zu sehen. Lasvit-Gründer Leon Jakimic dirigiert die Firma deshalb von Hongkong aus.