Staufrei in den Süden
Von Nauders in Tirol führt ein Radweg Richtung Süden: 300 Kilometer lang, umrahmt von mächtigen 3000ern, durch Weingärten und Obstplantagen, am Gardasee vorbei bis nach Verona. Andreas Kremsner ist ihn entlanggerollt.
Die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt. Aber auch dieses Mal muss sich Carmen der Gewalt ergeben, wird von Don José gemeuchelt. Der fühlt sich zum ungezählten Male von der heißblütigen Zigeunerin erniedrigt, fleht sie zum ungezählten Male im vierten Akt noch einmal an, ihm zu folgen, um ein gemeinsames Leben zu führen. Doch Georges Bizets Carmen entscheidet sich seit der Uraufführung der gleichnamigen Oper im Jahr 1875 immer wieder für den siegreichen, feschen Stierkämpfer Escamillo.
Nach ihrem Tod senkt sich in der Arena di Verona gegen ein Uhr früh der Vorhang; 18.000 Besucher bejubeln die Mitwirkenden, der Halbmond hängt quasi noch als Statist im Hintergrund am Himmel. Nach Vorstellungsende strömen Zuschauer und Mitwirkende aus der Arena, um noch irgendwo, in der mit Lichtern erhellten Altstadt von Verona, einen coolen Drink zu sich zu nehmen und sich abzukühlen.
Nur Carmen ist barfuß
Der Dresscode für die Oper in der Arena von Verona sieht eine "dem festlichen Anlass angemessene Kleidung" vor – kurze Hosen, gar Badebekleidung oder barfuß ist verpönt. Barfuß darf nur die Darstellerin der Carmen ihre Auftritte genießen.
Die Arena birgt nicht nur eine gute Akustik, sondern speichert auch die Hitze des Tages qualitätsvoll. Carmens Lieben und Leiden beginnt gegen 21 Uhr und endet drei Pausen und vier Stunden später mit erwähnter Gewalttat. Nach den 34 Grad Celsius vom späten Nachmittag hat es jetzt, eine Stunde nach Mitternacht, noch immer nicht abgekühlt. Fächer, die außerhalb der Arena von Händlern noch um vier Euro feilgeboten werden, kosten innerhalb derselben zehn Euro; sie finden dennoch reißenden Absatz. Hunderte Damen und Herren fächeln sich Abkühlung ins Gesicht, bis der letzte Vorhang in der von den alten Römern erbauten Arena fällt.
Die Oper ist grandioser Schlusspunkt einer genussvollen Reise durch Oberitalien: von Nauders nach Verona, von den Weinbergen im Norden zur Kultur südöstlich des Gardasees; mit dem Fahrrad immer die Etsch entlang; und nachdem man sich sonst kaum etwas gönnt – mit dem elektrisch angetriebenen.
Warum mit dem E-Bike?
Jetzt werden sich einige fragen, warum elektrisch, wenn’s fast immer den Fluss entlang abwärts geht? Die Antwort ist einfach: Weil der eine oder andere Gegenwind im Tal den Schweiß auf die Stirn treibt, von der Sommerhitze war bereits die Rede. Und außerdem sind die Elektrischen mittlerweile technisch so ausgereift, dass man nicht mehr darauf verzichten will. Auch wenn man von sportlichen Italienern milde belächelt wird, die einem in kleinen Gruppen mit top gestylten und polierten Rennfahrrädern entgegenkommen. Der Etsch-Radweg ist für alle da, dementsprechend viel Entgegenkommen zeigen auch alle.
Faktor 30 ist Pflicht
"Ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber bitte schmiert euch kräftig mit Sonnencreme ein", warnt Manfred Traunmüller. Der Donau-Touristik-Chef begleitet die Gruppe und weiß, wovon er spricht. Sein Unternehmen bietet die Reise entlang der Etsch als Radtour an. Viele Male ist er den Weg bereits gefahren, hat einen Reiseführer mit Karten, Fotos und Beschreibungen verfasst, kennt jeden Stein, jede Steigung und wahrscheinlich jede Kuh entlang des Weges. Traunmüller weiß, wie schnell der Fahrtwind die Kraft der Sonne vergessen lässt: "Zumindest Lichtschutz-Faktor 30 ist Pflicht."
Die Reise beginnt in Nauders in Tirol. Fast eben führt der Radweg durch grüne Wiesen und Wälder, bereits nach vier Kilometern wird die Grenze zu Italien passiert, kurz darauf "bezwingen" wir gemütlich den Reschenpass – die schneebedeckte Ortlergruppe immer im Blick.
Im Jahr 1950 machte der Reschensee Schlagzeilen. Das Dorf Graun wurde damals wegen des Baus dieses Stausees abgesiedelt. Der Kirchturm ragt wie ein Mahnmal aus dem Wasser. Heute für Radler ein erster Stopp für ein einzigartiges Fotomotiv. Schon deutet sich an, warum man sich für den Radweg viel Zeit und Muße mitnehmen sollte. Unzählige Sehenswürdigkeiten, Naturschauspiele und von Menschen geschaffene Bauwerke wollen auf der Chipkarte für die Daheimgebliebenen verewigt werden.
Das Wahrzeichen des Vinschgau fasziniert bis heute: Der Reschensee wurde 1950 gestaut, die Ortschaft Graun verschwand fast zur Gänze.
Burg gegen Burg
Im Mittelalter gab es ein ziemliches Gerangel um Tirol, das Alpen-Nadelöhr zwischen Norden und Süden. Kaiser, Könige und Päpste buhlten um Verbündete, lokale Adelige stachen sich gegenseitig aus. Burg gegen Burg wurde gebaut, Schloss um Schloss. Auf Felsvorsprüngen kauern viele noch heute, einige liegen tief drinnen in den Weingütern, manche sind Museen geworden, andere Hotels. 450 Burgen, Schlösser und Ansitze werden in Südtirol heute gezählt. An so mancher Trutzburg führt der Radweg vorbei, während sich die Etsch Richtung Süden schlängelt.
In der Mitte Südtirols liegt der Obstgarten des Landes. 40 Millionen Apfelbäume gedeihen entlang der Etsch, von Salurn im Süden bis in den Vintschgau im Westen und im Eisacktal rund um Brixen. Der Radweg führt oft kilometerlang durch die Apfelplantagen. Mittendrin die Stadt Meran, gerade recht für eine Übernachtung. Nach einer gemächlichen Erkundung der alten Römerstadt am Tag danach geht’s weiter flussabwärts. Die Sonne zeigt am Vormittag bereits wieder ihre Kraft.
Tag für Tag rollen wir weiter Richtung Süden, so manch untrainierter verlängerter Rücken schmerzt, doch wir lassen uns von der Landschaft verzaubern und von den Menschen verwöhnen, nähern uns Verona und Carmen.
Aber nicht ohne zuvor noch einen Zwischenstopp am Gardasee einzulegen. Die Altstadt von Riva, ganz im Norden des Sees, lockt mit einem gemütlichen Cappuccino und italienischem Flair.
Der nördliche Gardasee
Ein See, groß wie ein Meer
Der Radweg, direkt am See entlang, könnte nicht bezaubernder sein, auch wenn man sich den Schatten der Parkbäume mit Badegästen, Windsurfern und Seglern teilen muss.
Groß ist die Versuchung, in die kühlen Fluten des Gardasees einzutauchen, Dolce Vita zu genießen und das Fahrrad einfach in der Sonne stehen zu lassen. Aber Carmen wartet bereits auf uns. Und so radeln wir weiter, gespannt auf eine heiße Aufführung in der weltberühmten Arena di Verona.
Insider-Informationen
80 Kilometer pro Tag soll der deutsche Bundespräsident Horst Köhler mit Gattin und Freunden jeden Tag geradelt sein, als sie 2007 von Nauders die Etsch entlang Richtung Trento gefahren sind. Seither erfreut sich Nauders als Beginn eines Radurlaubes an der Etsch größter Beliebtheit.
Salurn (Salorno) ist das südlichste Dorf Südtirols und damit des bajuwarischen Siedlungsraums. Das Tal bildet eine Engstelle, die als Salurner Klause bekannt ist.
Goethe: Für den deutschen Dichterfürsten war Verona die „erste wirklich italienische Stadt“. Goethes „Italienische Reise“ ist ein Reisebericht, in dem er seinen Italienaufenthalt (1786–1788) beschreibt.
Angebote bei Donautouristik: Etsch-Radweg: ab 598 Euro; individuelle 7-Tage-Radreise mit Gepäckservice, Schlanders–Verona - 6x Übernachtung und Frühstücksbuffet,
Anreise: Freitag bis Montag von 15. April bis 16. Oktober, Hotels der 3- und 4-Sonnen-Kategorie laut Ausschreibung.
www.donaureisen.at