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Pappelapapp

Von Christian Schreiber, 07. April 2018, 00:04 Uhr
Pappelapapp
Lecce: Hauptstadt des italienischen Barock, mittendrin das im 2. Jahrhundert erbaute römische Amphitheater. Bild: Wikimedia

In Lecce findet man die letzten Künstler, die Heiligenfiguren aus Pappmaché herstellen. Rund um Ostern und Pfingsten stürmen Touristen aus aller Welt die Werkstätten.

Giuseppe Rosato versorgt die Wunden von Jesus. Dort, wo es am schlimmsten ist, bringt er große braune Pflaster an. "Eines Tages wird er sich bei mir dafür bedanken", scherzt der kleine, untersetzte Italiener. Dann packt er Jesus, der einen Kopf größer ist als er, an der Taille und stellt ihn auf die Straße, wo die Sonne den engen Gassen bereits ordentlich einheizt. "Draußen trocknet der Herrgott schneller."

Giuseppe ist Handwerker, Restaurator, Sozialarbeiter – vor allem aber ist er Cartapesta-Künstler, der in der "Bottega d’Arte di Don Francesco" im italienischen Lecce Erstaunliches aus Draht, Stroh und Papier hervorbringt: Pappfiguren. In seiner Werkstatt lehnt sich Gottesmutter Maria lässig an Don Bosco.

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Giuseppe Rosato in den Armen von Jesus, dessen Wunden er gerade versorgt hat. Bild: Schreiber

Von oben lächelt ein Erzengel herab. Dutzende Heiligenfiguren haben sich zu einer stillen Prozession versammelt. Man würde jede Wette eingehen, dass sie aus Holz sind. Erst wenn man Maria ganz tief in die Augen blickt, sieht man, dass sie aus Pappmaché ist. Das Gesicht ist ein wenig eingedrückt, die Papierschichten liegen offen. Jesus erging es ähnlich, deswegen wird er jetzt mit braunem Packpapier voller Klebstoff wieder zusammengeflickt.

Lecce ist die einzige Stadt in Italien, vermutlich sogar in Europa, in der die Cartapesta-Künstler noch aktiv sind. Die Aufträge für die Werkstätten, von denen es noch ein Dutzend gibt, kommen aus aller Welt. Das Kerngeschäft liegt aber vor der Haustür: Gut 100 Kirchen, also eine pro 1000 Einwohner, befinden sich nach Auskunft der Provinzregierung in der Stadt am Stiefelabsatz, die im 18. Jahrhundert den Beinamen "città-chiesa" (Kirchenstadt) erhielt. Von einer Ausnahme abgesehen, sind alle mit Pappmaché-Heiligen ausgestattet. Selbst die Stuckengel haben einen Dickkopf aus Papier. Sie halten überraschend lange, aber nach 200 oder 300 Jahren braucht selbst der hartnäckigste Padre Pio eine Schönheits-OP.

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Draht und Stroh bilden das Grundgerüst der Heiligenfiguren. Bild: Schreiber

Zwei bis drei Monate Arbeit

In der Zeit rund um Ostern und Pfingsten pilgern viele Katholiken aus Italien und Europa nach Lecce. Die Glaubens-Touristen wuseln aufgeregt durch die Cartapesta-Werkstätten, um ihren Schutzpatron abzuholen, der eine Wellnesskur hinter sich hat. Oder sie holen gar eine neue Figur ab, die sie bei Giuseppe oder einem Kollegen in Auftrag gegeben haben und bei ihrer nächsten Prozession voller Stolz vor sich hertragen wollen. Das Geschäft mit den lebensgroßen, transportablen Heiligen ist das zweite wichtige Standbein für die Cartapesta-Künstler in Lecce. Schließlich lässt sich ein Bonifazius aus Pappmaché doch leichter durchs Dorf tragen als der hölzerne Antonius. Die Prozessionsfiguren können mehrere tausend Euro kosten, bestehen sie doch aus bis zu zehn Schichten Papier. Ein Künstler arbeitet zwei bis drei Monate daran. Zunächst formt der Cartapesta-Künstler das Skelett aus Draht, umwickelt es mit Stroh und trägt die Pappmasse auf. Diese wiederum besteht aus Packpapier, das in einer Mischung aus Mehl und Wasser aufgeweicht ist. Schicht für Schicht geht es voran, die Figur muss stets trocknen. Am Ende kommt eine gipsartige Masse oder Kreide-Mischung drauf, der Heilige strahlt in unschuldigem Weiß und kann entsprechend bemalt werden.

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Zum Trocknen werden die Figuren im Freien positioniert. Bild: Schreiber

Giuseppe verfolgt jeden Arbeitsschritt seiner Jünger. Schließlich sollen sie mit Gottes Hilfe wieder auf den richtigen Weg kommen. Unter den rund 20 Mitarbeitern der "Bottega d’Arte di Don Francesco" sind auch schwer erziehbare Jugendliche ohne Ausbildung und sonstige Arbeit. So mancher ist nach Aussage von Giuseppe schon reumütig geworden und betet seither zu Sant‘Oronzo, dem Stadtheiligen von Lecce, der auf einer Säule hoch über dem Hauptplatz der Stadt thront. Jedes Jahr Ende August gibt es ein großes Fest zu seinen Ehren, das drei Tage dauert.

Als Tourist kommt man besser in der Nebensaison im April und Mai oder im Herbst. Auch dann erlebt man Lecce als lebendige Stadt, als sonnenverwöhnte, dralle Königin des Barock, die aufreizend ihre Rundungen zeigt und ein Kleid mit ausladenden Ornamenten trägt. Hunderte gut erhaltene Paläste und schwergewichtige Balkone präsentieren sich im "centro storico", wo historische Grabungsstätten eine Zeitreise in die Geschichte Apuliens ermöglichen, die 200.000 Jahre bis in die Altsteinzeit zurückreicht. Römer, Griechen, Spanier und Araber eroberten die Stadt, wurden geschlagen und hinterließen ihre Spuren. Aus griechischen Klöstern wurden römische Tempel und Kirchen.

Zu den auffälligsten Objekten zählt die "Chiesa di Santa Chiara". Ein Nonnenorden ließ sie im 18. Jahrhundert umbauen. Die frommen Frauen warfen mit Geld nur so um sich, spendierten jedem Altar und jeder Figur eine üppige Schicht aus Blattgold. Als es aber daranging, den Deckenschmuck zu bestellen, war die Kasse leer. Also erhielten die Handwerker in Lecce den Auftrag, es mit Pappmaché zu versuchen. Am Ende flammten die schlauen Künstler die Oberfläche gar ab, um dem Ganzen einen Holz-Touch zu verleihen, der noch heute täuschend echt aussieht.

Kunstwerke aus Papier

Auch Francesca Carallo ist jedes Mal begeistert, wenn sie in Santa Chiara steht und den Kopf in den Nacken wirft. Dabei kann sie mit dem althergebrachten Style nicht mehr viel anfangen. Lange Zeit hat sie selbst Heiligenfiguren aus Pappe geformt. "Aber die Arbeit war mir zu stupide, zu langweilig. Da kann man keine Kreativität ausleben."

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Künstlerin Francesca Carallo formt aus Papier unter anderem kunstvolle Vasen und Lampen. Bild: Schreiber

Sie begann in ihrem Atelier, das gleich hinter der Via Arte della Cartapesta liegt, zu experimentieren. Formte Säulen aus Papierbögen, webte Teppiche mit selbst gedrehten Papierschlangen und war plötzlich eine gefragte Künstlerin. Mittlerweile stellt sie sogar in Mailand aus. Besonders begehrt sind ihre großen Lichtkugeln, bei denen sie ein Korsett mit hunderten kleinen Öffnungen über eine Lampe stülpt. Kunden aus aller Welt kommen zu Francesca. Sie muss nicht mehr um Laufkundschaft werben wie die anderen Cartapesta-Künstler, die Christus und San Giovanni in die engen Gassen stellen, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Jesus hat mittlerweile Feierabend. Die Pflaster sind trocken, und er hat doch ein paar Touristen in die Werkstatt gelockt, die keine Ahnung hatten, dass in Lecce Papier-Heilige den Ton angeben. Auch wenn sie jeden Tag nur eine stumme Prozession veranstalten…

 

Tipps und Infos

 

Anreise: In der Hauptsaison Flüge ab München nach Brindisi. Ab Juni Wien-Bari mit Wizz Air, zirka 1,5 Stunden Transfer nach Lecce

Unterkunft:
La Fiermontina: traumhaftes Boutiquehotel hinter hohen Mauern, die auch in der Hochsaison Hitze und Trubel aussperren. Außerdem: großartige Kunstsammlung. DZ ab 250 Euro. www.lafiermontina.com
Hotel Zenti Salento: zentral, gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, aber kleine Zimmer. DZ ab
105 Euro. www.zenithotel.it
Palazzo Massari: einfaches B&B. DZ ab 79 Euro.
www.beb-palazzomassari.it

Cartapesta:
Meisterwerkstatt „La Bottega d’Arte di Don Francesco“: www.didonfrancesco.it
Kunstwerkstatt: www.francescacarallo.it

„tourango“: Das Tourismusbüro hat seinen Sitz in der Altstadt („Boutique Experiences“) und bietet viele pfiffige Ideen für Touristen. www.tourango.it

Individuelle (Cartapesta-)Tour in Lecce, z. B. unter www.pugliatraveldesign.com

Cartapesta-Museum: www.castellocarlov.it/museo-della-cartapesta

Allgemeine Informationen: www.viaggiareinpuglia.it

 

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