"Für sie ist die westliche Welt falsch"

Von Tobias Schmitzberger   16.Jänner 2016

Thomas Schmidinger spricht mit österreichischen Dschihadisten, die nach Syrien gehen wollen. Der 41-Jährige ist Dschihadismus-Experte und Autor einschlägiger Bücher – und wird in Braunau referieren (Termin und Vita am Artikelende). Er ist Mitbegründer des "Netzwerks Sozialer Zusammenhalt", das versucht, jugendliche Dschihadisten zu deradikalisieren. Die Warte hat mit dem Referenten vorab über seine Tätigkeit und Erfahrungen gesprochen.

Warte: Sie versuchen, mit Dschihadisten und Dschihadistinnen zu reden und sie zu deradikalisieren. Gibt es eine Begegnung, die einen besonders großen Eindruck hinterlassen hat?

Schmidinger: Einige. Was manchmal einen Eindruck bei mir hinterlässt ist, dass Leute, die unglaubliche Grausamkeiten begehen wollen, gleichzeitig extrem verletzlich sein können und mir leid tun. Und dass ich manche ihrer Emotionen durchaus nachvollziehen kann. Da gibt es einen Fall von einem Mädchen, das ich nie persönlich kennengelernt habe. Die Mutter ist gekommen, als sie schon in Raqqa (Stadt in Syrien unter Kontrolle des IS) war. Sie hat mir dann sehr viel über das Mädchen erzählt und mir immer Whatsapp-Nachrichten und Bilder von ihr gezeigt. Und ich dachte mir: Echt, Mädchen, wenn du dich in einen anderen Typen verliebt hättest ...

Ist in jedem Menschen die Anlage zum Dschihadisten?

Sagen wir es so: Jeder Mensch kann, wenn er in seiner Sozialisation bestimmte Dinge erlebt, eine psychische Konstitution entwickeln, die ihn verletzlich für solche Ideologien macht. Das muss aber nicht der Dschihadismus sein. Das können genauso der Rechtsextremismus oder andere autoritäre Ideologien sein.

Sie sprechen oft über die "Entfremdung" von der Gesellschaft. Was ist das?

Die Biografien der Betroffenen sind sehr unterschiedlich. Das Stichwort "Entfremdung" ist das, was ich als kleinster gemeinsamer Nenner destillieren würde. Das sind Menschen, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen dieser Gesellschaft fremd fühlen. Sie haben nicht ihren Platz in der Gesellschaft gefunden und sind auf der Suche nach Gemeinschaft, Sinnstiftung und einem klaren, einfachen Weltbild. Die Menschen finden das dann in solchen Gruppen. Dschihadisten bekämpfen oft andere Muslime, etwa in Syrien.

Es gibt aber auch Anschläge in Europa. Wen wollen die Leute bekämpfen, mit denen Sie reden?

Das große Ganze. Für sie ist die ganze westliche Welt falsch. Die Demokratie ist ein Götzendienst, die Erde sozusagen eine von jüdischen Kapitalisten beherrschte Weltverschwörung. Sie träumen von der Utopie einer Gesellschaft, die aus ihrer Sicht eine islamische ist. Es geht um einen großen Gegenentwurf zur liberalen Demokratie.

Was sagen Sie zu jemandem, der vor Ihnen sitzt und nach Syrien ziehen will?

Zunächst geht es mir darum, Zeit zu gewinnen und ihn zumindest in seiner Entscheidung zu verunsichern. Je jünger die Leute sind, desto wichtiger ist das. Bei Jugendlichen ist manchmal mit einem Zeitgewinn die Sache ums Ganze gewonnen.

Wie verunsichert man?

Indem man Ihnen zum Beispiel einiges über Syrien erzählt. Die meisten Jugendlichen haben keine Ahnung, was da für Akteure tätig sind. Wenn ich einmal erzähle, wie viele bewaffnete Gegner Assads es gibt, und dass der sogenannte Islamische Staat primär die anderen, sunnitischen Gegner von Assad bekämpft, dann wirkt das manchmal verunsichernd.

Aber glauben Ihnen die Menschen sofort?

Nein, natürlich nicht. Es geht mir nur darum, dass sie einen kleinen Zweifel an der Erzählung ihres dschihadistischen Predigers entwickeln. Dass sie es sich vielleicht nochmal eine Woche überlegen, nach Syrien zu fahren. In der kann man dann schon wieder mit ihnen arbeiten.

Was kann man den Menschen bieten, damit sie wieder Teil der Gesellschaft werden?

Man muss schauen, dass sie das, was sie suchen, das ist meistens menschliche Nähe, Wärme und Sinn, bei anderen finden. Dass sie andere Menschen kennenlernen, die ihnen echte Begegnungen ermöglichen.

Gab es in Ihrem Leben einen Zeitpunkt, an dem es theoretisch möglich gewesen wäre, dass Sie Dschihadist werden?

Dschihadist vielleicht nicht, weil ich diese Gewaltaffinität nicht gekannt habe. Aber ich habe mich als Jugendlicher schon sehr stark dieser Gesellschaft entfremdet gefühlt. Ich bin zu einem humanistisch orientierten Linksradikalen geworden. Das Maximale, das ich getan hätte, wäre einen Stein zu werfen. Aber nicht auf einen Menschen, sondern auf eine Glasscheibe oder so etwas. Es gibt vielleicht einen großen Unterschied zwischen mir, meinen damaligen Freunden und den Dschihadisten: Wir wollten die Gesellschaft, in der wir lebten, in eine völlig andere Richtung verändern. Aber wir waren Teil dieser Gesellschaft, und wir hatten nicht irgendwo ein vermeintliches Utopia, wo wir hingehen wollten.

Vortrag mit Diskussion "Brennpunkt Syrien" mit Thomas Schmidinger am Montag, 18. Jänner, um 19 Uhr im Veranstaltungszentrum Braunau; mit Vorstellung des Buchs "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan"; Veranstalter: Attac Braunau, Verein für Zeitgeschichte, Initiative Eine Welt, Treffpunkt Mensch und Arbeit, Volkshilfe. Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter, Kultur- und Sozialanthropologe, Lektor an der Universität Wien und an der Fachhochschule Vorarlberg, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie, Vizeobmann des Netzwerks Sozialer Zusammenhalt und Vorstandsmitglied der Hilfsorganisation LeEEZA.

 

Anmerkung: Der Verein  "Netzwerk sozialer Zusammenhalt" hat sich am Montag aufgelöst.  Gründe waren "inhaltliche und organisatorische Differenzen", heißt es.