Nach Suizid-Versuch an Schule fordert Enzenhofer Verbot von Netflix-Serie

Von Gerhild Niedoba und Alfons Krieglsteiner   20.Mai 2017

Dramatische Szenen spielten sich am Dienstag im Bundesrealgymnasium Bad Ischl (BRG) ab: Ein aufmerksamer Lehrer konnte in letzter Minute den Suizid zweier Schülerinnen verhindern. Die Mädchen wurden mittlerweile in einer Betreuungseinrichtung untergebracht. Nach eigenen Angaben hatten sie sich von der umstrittenen US-Fernsehserie "Tote Mädchen lügen nicht" inspirieren lassen, in der es um das Thema Suizid geht. Landesschulratspräsident Fritz Enzenhofer fordert: "Serien mit solchen Inhalten gehören verboten."

Die beiden 13-Jährigen hatten vor der Mittagspause ihrem Klassenvorstand einen verschlossenen Entschuldigungsbrief übergeben: Sie würden nicht zum Nachmittagsunterricht erscheinen. Der Pädagoge wurde misstrauisch. Er öffnete den Brief – und fiel aus allen Wolken. Denn statt einer Entschuldigung kündigten sie darin an, dass sie sich im Schulgebäude das Leben nehmen würden.

Fiktion und Realität vermischt

Der Klassenvorstand trommelte sofort einen Kollegen und weitere Mitarbeiter der Schule zusammen, um nach den beiden zu suchen. Das Schulhaus wurde durchkämmt, in einer Toilette fand der Suchtrupp die Mädchen kurze Zeit später. Eine lag bereits bewusstlos auf dem Boden, sie drohte zu ersticken. Ihre Freundin blutete stark an den Armen. Eine anwesende Ärztin leistete Erste Hilfe. Die Mädchen wurden ins Spital gebracht, seit Mittwoch sind sie außer Lebensgefahr. Lehrer und Mitschüler werden vom Kriseninterventionsteam betreut.

Vor der Tat hatten die 13-Jährigen die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" angesehen. Darin geht es um den Suizid an einer US-High School. "Sie haben offenbar aufgrund einer gestörten Persönlichkeitsentwicklung die fiktive Geschichte als Realität in ihr Selbstbild verinnerlicht und dann planmäßig umgesetzt", sagt Jugendpsychiater Michael Merl (mehr dazu unten).

Dass der Auslöser für die Tat im schulischen Umfeld liegen könnte, glaubt Direktorin Barbara Moser nicht. Beide hätten keine Probleme gehabt: "Die eine ist eine gute Schülerin, die andere hat sich gerade eine Note ausgebessert." Die Schule sei nur Ort des Geschehens gewesen, "aber nicht der Verursacher". Dass eines der Mädchen angeblich Liebeskummer hatte, wollte sie nicht kommentieren. Die umstrittene Netflix-Serie sei bisher kein Thema am BRG Bad Ischl gewesen. In regelmäßigen Workshops würden aber im Unterricht die Gefahren von Internet und Fernsehen thematisiert.

"Ein Verbot ist schwierig"

Enzenhofer ist sich bewusst, dass ein Verbot solcher Serien schwierig ist, "denn ihre Verbreitung im Netz lässt sich nicht verhindern". Gestern lud er zu einem Treffen von Experten, um ähnlichen Taten vorzubeugen. Darunter war auch Peter Eiselmair, Geschäftsführer der EduGroup des Landes OÖ., die für die mediale Versorgung der Schulen zuständig ist. Serien wie "Tote Mädchen lügen nicht" kämen für den Unterricht nicht in Betracht: "Aber dass sie immer öfter in der Freizeit konsumiert werden - das haben wir nicht im Griff."

 

"Tote Mädchen": Zweiter Teil geplant

"13 Reasons Why", wie die Serie "Tote Mädchen lügen nicht" im Original heißt, basiert auf dem gleichnamigen Bestsellerroman von Jay Asher. In den 13 Folgen geht es um den Suizid der Schülerin Hannah Baker - gespielt von Katherine Langford - an einer US-amerikanischen High School. Nachdem sie sich das Leben genommen hat, werden Kassetten gefunden, in denen sie Vorwürfe gegen Familie, Freunde und Mitschüler erhebt.

Über die Produktion des Streaming-Portals Netflix wird kontrovers diskutiert. US-Psychologen warnen, sich die Serie anzusehen, da sie psychische Probleme hervorrufen und verstärken könne. An kanadischen Schulen wurde "13 Reasons Why" bereits verboten. Netflix reagierte auf die negative Resonanz und stellte den einzelnen Episoden Warnhinweise voran. Mit der Serie wollten sie über die Folgen von Mobbing aufklären, betonten die Macher und kündigten eine zweite Staffel an.

 

Interview
Tanja Jadin

Im Interview: Tanja Jadin

Medienpsychologin an der FH Oberösterreich am Campus Hagenberg.

OÖNachrichten: Inwieweit wirken Medien speziell auf Jugendliche in der Pubertät ein?

Tanja Jadin: Die Pubertät ist eine sehr sensible Phase. Medien wirken aber nicht unmittelbar auf Jugendliche in diesem Alter. Viel mehr spielen Umweltfaktoren und das persönliche Umfeld eine große Rolle.

Wie sollte sich das Umfeld bei ersten Anzeichen einer Gefährdung verhalten?

Befinden sich Kinder und Jugendliche in einer schwierigen Phase – wenn sie etwa depressiv sind –, müssen in erster Linie Bezugspersonen wie etwa Eltern oder Lehrer reagieren und ihnen Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, sie auffangen und unterstützen.

Können Fernsehsendungen für einen Selbstmord verantwortlich gemacht werden?

Nein. Medien können nicht als Alleinschuldige herangezogen werden. Bei einem Suizid treffen immer mehrere Faktoren zusammen. TV-Serien etwa können aber ein Auslöser, ein so genannter Trigger, sein.

Sollten derart umstrittene Serien wie "Tote Mädchen lügen nicht" verboten werden?

Von Verboten halte ich nichts. Das würde das Interesse nur noch verstärken. Stattdessen sollten Eltern mit ihren Kindern besprechen, was sie sich im Fernsehen oder im Internet anschauen dürfen bzw. was nicht. Wichtig ist dabei auch, zu erklären, warum manche Sendungen für sie nicht geeignet sind.

 

 

"Eine fatale Seilschaft"

Die beiden 13-Jährigen, die sich im BRG Bad Ischl gemeinsam das Leben nehmen wollten, hätten eine "fatale Seilschaft" gebildet, sagt Jugendpsychiater Michael Merl. Verbunden habe sie möglicherweise das Gefühl: "Niemand mag uns, wir werden von der Gemeinschaft zurückgestoßen". So hätten sich beide "heruntergezogen". Laut Merl brauchen sie dringend eine Therapie, "in der sie lernen, Frustrationen auszuhalten.

Das Schreiben mit der Ankündigung des Suizids hatte laut Merl Appellcharakter: "Es zeigt, dass sie doch auf Hilfe hofften." Was den Umgang mit solchen Serien betrifft: "Die sollten sich Kinder immer nur mit ihren Eltern ansehen". Und Netflix sollten Eltern ihren Kindern keinesfalls uneingeschränkt zur Verfügung stellen.