Lade Inhalte...
  • NEWSLETTER
  • ABO / EPAPER
  • Lade Login-Box ...
    Anmeldung
    Bitte E-Mail-Adresse eingeben
    Bitte geben Sie Ihre E-Mail-Adresse oder Ihren nachrichten.at Benutzernamen ein.

Güterzug überrollte Kleinkind

Von Sabrina Payrhuber, Robert Stammler, Herbert Schorn und Alfons Krieglsteiner   09.April 2015

An der Bahnhaltestelle in Ebelsberg stehen die Polizisten, während ihnen ein kalter Wind um die Ohren weht. Ihre starren Blicke verbergen, was sich wohl in ihren Köpfen abspielen muss. Sie warten auf die Bestatter. Diese müssen ein achtzehn Monate altes Mädchen abholen. Das tote Kleinkind liegt noch auf den Gleisen, zugedeckt mit silbrig glänzender Folie. Daneben die weiße Haube des Mädchens. Der Anblick der Szene schnürt einem die Kehle zu. Unfassbar scheint, was sich Minuten zuvor dort abgespielt hat.

Auf dem Bahnhof Ebelsberg wollte gestern, Mittwoch, eine 33-jährige Mutter aus Pichling gegen zehn Uhr noch schnell eine Fahrkarte beim Ticketautomaten lösen. "Sie hat den Kinderwagen mit ihrer Tochter auf dem Bahnsteig abgestellt, um sich beim einige Meter entfernten Fahrkartenschalter ein Ticket zu kaufen", sagt Oberst Manfred Rauch vom Stadtpolizeikommando Linz. Dazu musste die 33-Jährige über die Stiegen hinunter zum Automaten gehen.

Nach erstem Ermittlungsstand dürfte die Frau, die noch zwei weitere Kinder hat, vergessen haben, die Bremse des Kinderwagens zu ziehen. Der Buggy rollte los und wurde von einem durchfahrenden Güterzug erfasst. Das Mädchen war sofort tot. Ein Kriseninterventionsteam des Rotes Kreuzes kümmerte sich sofort um die Mutter.

Schüler war Augenzeuge

"Bisher wissen wir, dass der Kinderwagen vom zwölften Waggon des Güterzuges erfasst wurde. Das Kind wurde auf die Gleise geschleudert und der Kinderwagen vom Zug mitgeschleift", sagt Polizei-Sprecher Bernd Innendorfer gegenüber den OÖNachrichten. Laut Polizei sei auch denkbar, dass die Sogwirkung des vorbeibrausenden Güterzuges den Kinderwagen ins Rollen brachte.

Zum Unfallzeitpunkt war auch ein 17-jähriger Schüler am Bahnsteig, der sofort die Polizei alarmierte. Er hatte das Unglück zwar beobachtet, stand aber zu weit weg, um eingreifen zu können.

Wie es genau zu dem Unfall kommen konnte, wird nun von der Polizei geklärt. "Der Bahnsteig ist zum Gleis hin etwas abschüssig, außerdem war es windig", erklärte Oberst Rauch. Die Ermittler stellten die Aufnahmen der Überwachungskameras sicher. Die Auswertung der Bänder bestätigte den vermuteten Unfallhergang.

Das Unglück ereignete sich in Höhe des zwölften Waggons, der Lokführer hatte deshalb nichts bemerkt. Güterzüge können laut ÖBB mit bis zu 100 km/h den Bahnhof passieren. Der Zug wurde beim wenige Minuten entfernten Linzer Hauptbahnhof gestoppt. Experten der Spurensicherung entdeckten dort Überreste des Kinderwagens.

Gerichtsverfahren droht

Als ob das alles nicht schon genug wäre, kommt auf die leidgeprüfte Frau möglicherweise auch noch ein Gerichtsverfahren zu. Sie könnte wegen Fahrlässigkeit belangt werden. Fest steht laut Polizei, dass der Kinderwagen nicht mit Absicht ins Rollen gebracht wurde. Ob der Leichnam obduziert wird, ist noch nicht geklärt, sagte Philip Christl von der Staatsanwaltschaft Linz.

Unfälle auf Bahnsteigen

30. Dezember 2014 Beim Zwischenstopp eines Nachtzuges in Feldkirch drückt ein fünfjähriger Fahrgast die Stopptaste. Die Zugtür öffnet sich und das Kind stürzt auf die Gleise. Der Fünfjährige will danach auf den Bahnsteig klettern, als sich schon ein weiterer Zug nähert. Der Regionalzug verfehlt den Buben nur knapp.

3. Juli 2014 Knapp vor dem Eintreffen ihres Zuges erleidet eine Kärntnerin (33) auf dem Bahnsteig in Villach einen Schwächeanfall und stürzt auf die Gleise. Zwei Passanten können die Frau gerade noch rechtzeitig nach oben ziehen.

13. Oktober 2013 Aus Leichtsinn und Übermut tollt ein 20-jähriger Wiener auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Haltestelle Schwedenplatz herum. Ausgerechnet als der Zug einfährt, stürzt der 20-Jährige auf die Gleise, wird zwischen U-Bahn und Bahnsteigkante eingeklemmt und schwer verletzt.

28. August 2010 Ein taubstummer und gehbehinderter Senior (61) versucht in Vöcklabruck, aus einem wegfahrenden Zug zu steigen. Er wird zwischen Zug und Bahnsteig eingeklemmt und 100 Meter mitgeschleift. Der 61-Jährige wird dabei schwer verletzt.

Erst der Schock, dann folgen Trauer und Schuldgefühle

Unerwartete schreckliche Ereignisse können Betroffene in Krisen stürzen, mit denen sie allein kaum fertig werden. Ihnen leisten die Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams des Roten Kreuzes in den ersten Stunden Beistand. Sie wollen Menschen in Extremsituationen helfen – wie jener Mutter, deren Kleinkind gestern bei dem Unfalldrama auf dem Bahnhof Ebelsberg ums Leben kam.

Beistand leisten, das heißt in solchen Fällen: „Die Betroffenen sollen spüren, dass jemand da ist, der ihnen eine gewisse Sicherheit gibt“, erklärt Claudia Hockl (50), fachliche Leiterin der Krisenintervention des RK Oberösterreich. „Im ersten Schock verfallen manche in totale Erstarrung, andere werden von ihren Gefühlen überschwemmt.“ Die Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams bleiben in der Nähe, ohne sich aufzudrängen, schweigen mit den Betroffenen oder knüpfen behutsam ein erstes Gespräch an.

„Was ist passiert?“ Mit dieser Frage versuchen die Helfer, die Betroffenen zum Reden zu bringen. „Durch die Schilderung bringen sie Ordnung in ihre Gedanken und können wieder den Bezug zur Realität gewinnen, der im ersten Schock meist verloren gegangen ist“, so Hockl. Dann kommen auch Schuldgefühle und Selbstvorwürfe – oft so übersteigert, dass sie an Selbstmord denken lassen.

Bis zu vier Stunden dauert das „Einsatzfenster“ für die Helfer. Dann werden die Betroffenen der Obhut von Angehörigen übergeben. Diese erhalten zuvor noch Anweisungen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Eines stellt Hockl klar: „Der beste Schutzfaktor für Menschen, die etwas Furchtbares erleben mussten, ist ein intaktes soziales Umfeld.“

Neue Perspektiven finden

Ruhiges Naturell, Lebenserfahrung, Feingefühl, Zurückhaltung, diese Eigenschaften müssen die geschulten Einsatzkräfte der Krisenintervention mitbringen. Das gilt auch für die aktiven Mitarbeiter des psychosozialen Notdienstes von „pro mente“, die nach Abklingen der akuten Belastungsreaktion die Betroffenen auf Wunsch weiter betreuen. Tagelang könne die erste Schockphase dauern, sagt Monika Czamler (55), Leiterin des psychosozialen Notdienstes. Dann folgt die „Bearbeitungsphase“, in der man sich über Gefühle und neue Perspektiven klar wird. Unter tragisch veränderten Bedingungen einen Neuanfang finden – das ist das Ziel.

„Es ist nicht begreiflich, jemandem beim Sterben zuschauen zu müssen“

"Es war im dichten Nebel. Plötzlich hat es gescheppert und ich wusste nicht einmal, warum.“ Nur vage kann sich Lokführer Alfred P. an jenen schrecklichen Unfall erinnern. Ein Autofahrer hatte im Nebel die Orientierung verloren, fuhr auf die Gleise, weil er glaubte, auf einer Eisenbahnkreuzung zu sein. In dem Moment kam P.s Lok. „Der Lenker hatte keine Chance. Da kannst du nur noch auf die Polizei warten.“ Heute, Jahre nach dem Unfall, ist für den Mann aus dem Raum Linz die Sache abgeschlossen: „Ich mache mir keine Gedanken mehr darüber.“

Erstarrung in Abwehrhaltung

Viele Lokführer brauchen nach einem tödlichen Unfall psychologische Hilfe. Die meisten reagieren mit einer Art Erstarrung, sagt Psychotherapeut Josef Blaschitz, der als Leiter des Kurhauses Triestina in Bad Gleichenberg bereits rund 100 traumatisierte Lokführer betreute. „Sie nehmen wahr, was passiert, leiten den Bremsvorgang ein, können den Zug aber nicht stoppen. Die Person friert in einer Abwehrhaltung ein.“ Dadurch entstünden muskuläre Verhärtungen und Blockaden. „Wir versuchen, diese in Gesprächen zu lösen.“ Die Reaktionen auf solche Unfälle sind vielfältig. Sie reichen von hohem Bewegungsdrang, Aggressionen, Schlaflosigkeit bis zu Depressionen. Die einen brauchen keine Hilfe, andere können nie mehr als Lokführer arbeiten.

Auch auf psychologischer Ebene können die Folgen enorm sein. „Es ist nicht begreiflich, jemandem beim Sterben zuzuschauen“, sagt Blaschitz. „Viele reagieren, indem sie sich wegbeamen.“ Die Lokführer gelangen dann in eine Art Wattebausch-Zustand, erleben ihre Umwelt, als ob sie in Schaumstoff eingepackt wären. „Wir versuchen, sie wieder in die Realität zurückzuführen.“ Dabei seien Informationen zum Unfallhergang wichtig. Probleme entstehen, wenn die Lokführer bei der behördlichen Aufarbeitung offiziell als Beschuldigte geführt werden. „Das macht sie zu potenziellen Tätern, obwohl sie eigentlich Opfer sind“, sagt Blaschitz. Zur Aufarbeitung des Traumas gibt es bei den ÖBB ausgebildete Laienhelfer, die Krankenkasse gewährt psychologische Hilfe oder mehrwöchige Aufenthalte.

Unterdessen reagieren die ÖBB geschockt auf den aktuellen Fall in Linz, bei dem ein Mädchen im Kinderwagen vom Zug erfasst wurde und starb. „Wir sind bestürzt“, sagt Sprecher Mario Brunnmayr. Zur Aufklärung arbeiten die ÖBB eng mit der Polizei zusammen.

 

 

 

 

 

 

copyright  2024
28. März 2024