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Das Signaturjahr

Von Peter Weibel, 21. April 2018, 00:04 Uhr
Das Signaturjahr
Peter Weibel 1968 mit der Aktion „tapp und tast kino“, bei dem Besucher die nackten Brüste von Valie Export durch einen Kasten hindurch berührten. Bild: Werner Schulz

1968 war ein Wendejahr, das Aufbrüche in vielen Bereichen der Gesellschaft brachte. Ohne diese Revolutionen wären unsere heutigen individuellen Freiheiten nicht möglich. Ein Gastkommentar von Peter Weibel.

Vor 1968 wölbte sich über Österreich ein Himmel aus grauem Beton. Diese Betondecke ohne Zugluft und ohne offene Fenster oder Türen erzeugte ein extrem reaktionäres Klima. Der Rückstau des "Tausendjährigen Reiches" hinterließ einen Geruch beziehungsweise eine Luft zum Ersticken. Ich habe dies am eigenen Leib erfahren, als ich zwischen 1959 und 1961 für zwei Jahre das Khevenhüllergymnasium in Linz besuchte. Mein damals bester Freund Günter Peschek (heute Professor emeritus für Chemie an der Universität Wien) und ich erlitten das berühmte Schicksal des begabten Kindes. Weil wir in einigen Fächern fortgeschrittener waren als die Lehrer und die Aufgaben schneller erledigten als andere Schüler, wurden wir als verhaltensauffällig empfunden und diskriminiert.

Man musste im Gymnasium Redeübungen machen, bei denen man aufstand, um einen Vortrag zu einem Buch oder Autor zu halten. Ich hatte damals "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" von Robert Musil und "Ulysses" von James Joyce gewählt und dafür schlechte Noten bekommen. Ich wunderte mich darüber und fragte nach. Man sagte mir, ich müsse ein anderes Buch wählen: "Lesen Sie Ödhof von Franz Nabl." Das war ein faschistischer Autor, was ich aber damals nicht wusste. Ich habe nur gesagt: "Das ist langweilige und schlechte Literatur. Ich will das nicht machen und möchte lieber weiter Werke von Musil und anderen lesen." Und dann habe ich eine schlechte Note bekommen, und ich habe nicht gewusst, warum.

Das Signaturjahr
Peter Weibel Bild: Christoph Hierholzer

Erst später, nachdem ich Ende 1964 aus Paris zurückgekommen war, fing ich an, mich mit der österreichischen Vergangenheit zu beschäftigen. Da habe ich dann entdeckt, dass ja die meisten meiner Lehrer Nazis gewesen waren und es auch geblieben sind. Andere Beispiele erlebte ich während meines Studiums an der Universität Wien. Meine Philosophieprofessoren waren Erich Heintel, NSDAP-Mitglied, und Leo Gabriel, der dem Austrofaschismus nahestand. Beide lehnten Ludwig Wittgenstein und die Philosophie des Wiener Kreises ab. Genau jene Formalwissenschaft, die mich interessierte. Auch mit diesen Professoren kam es naturgemäß zu öffentlichen Konflikten.

Aufstand gegen die Väter

Wir Österreicher haben ja nicht wie die Italiener oder Deutschen die faschistische Vergangenheit aufgearbeitet: Die Deutschen hatten sich durch Eugen Kogon ("Der SS-Staat", 1946) und Heinrich Böll und andere schon mit ihrer faschistischen Vergangenheit beschäftigt. Wir hatten zu der Zeit solche Schriftsteller noch nicht – von wenigen Ausnahmen wie Hans Lebert abgesehen – und auch keine Filmregisseure wie etwa in Deutschland Wolfgang Staudte ("Die Mörder sind unter uns", 1946) oder Bernhard Wicki ("Die Brücke", 1959). Wir hatten "Sissi"-Filme und solche Dinge.

Die erste Generation, und die war schmal, die sich mit der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit beschäftigt hat, das waren wir. Und wir waren nur wenige. Diese wenigen stammten aus der Studentenschaft und nicht aus der Arbeiterschaft. Es war der Aufstand der Jugend gegen die Väter, die Komplizen eines totalitären Regimes gewesen sind. Diese Jugendrebellion war Teil einer neuen Jugendkultur, die von Rock-’n’-Roll-Musik, Pop-Mode und der Kunst von Nouvelle-Vague-Filmen, von sexueller Befreiung und neuen Kunstformen getragen war.

Das Klima war in Österreich in den 1960er-Jahren schon extrem reaktionär, es waren eben noch die Nazis an der Macht. Ich versuchte zu verstehen, warum meine Kunst und die Kunst meiner Freunde, der Wiener Gruppe (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener und Jandl, Mayröcker) und der Wiener Aktionisten (Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler) so angefeindet wurden. Meine Antwort war: Weil wir immer noch in einem Kontinuum des Austrofaschismus leben.

Damals habe ich angefangen, über viele Jahre Bücher von vertriebenen, getöteten Künstlerinnen und Künstlern, Autorinnen und Autoren zu sammeln. In den Wiener Antiquariaten, die meine zweite Heimat wurden, konnte man zu dieser Zeit noch zu sehr günstigen Preisen Dokumente vertriebener Avantgarde-Künstler, die von Dachböden und arisierten Wohnungen auf den Markt gelangt waren, erwerben – von Opern-Libretti eines Franz Schreker bis zum Dichter Georg Kulka.

Zehn Jahre später, 1976, konnte ich dann mit Oswald Oberhuber in der Galerie nächst St. Stephan die Ausstellung machen, die den Titel hatte: "Österreichs Avantgarde 1908–38. Wiedereinführung österreichischer Kultur nach Österreich", eine Paraphrase des Titels der Zeitschrift von Adolf Loos’ "Das Andere. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich" (1903). Die ganze Ausstellung war, was Literatur und Philosophie betrifft, nur auf meinem Privatarchiv aufgebaut. Mit dieser Aufarbeitung der österreichischen Vergangenheit begann meine Politisierung als Künstler.

Gegen den Konservatismus

Mit Interventionen im öffentlichen Raum, mit Aktionen, mit Filmen und Manifesten protestierte ich gegen den Konservatismus in Österreich. So hatte ich damals wenige, aber sehr treue Leser: Polizisten, Richter und Staatsanwälte. Ich hatte ständig Prozesse wegen Störung der öffentlichen Ordnung und dergleichen und verbrachte immer wieder auch einige Nächte im Gefängnis.

Ich habe beispielsweise gesagt, dass in Österreich das Recht mit Füßen getreten wird. Deshalb habe ich 1968 beim Studententag im Stift Melk eine Arbeit gemacht, bei der ich in einem Saal den Boden mit Kreide und dem Wort "Recht" vollgeschrieben habe. Die Leute kamen und fragten, wo denn die Ausstellung sei, und ich sagte: "Ihr macht die Ausstellung gerade, indem ihr mit euren Füßen das Recht tretet." Das war also schon partizipatorisch, aber zugleich auch kritisch. Das Unrecht ist das Gesetz.

Der Höhepunkt der künstlerischen Revolutionen war die Aktion "Kunst und Revolution" vom 7. Juni 1968 in der Universität Wien mit Brus, Muehl, Wiener und mir. Weil es damals ein riesiges Zeitungsecho auf unsere Aktion gegeben hat, mussten sich die Leute damit auseinandersetzen, auch wenn sie es abgelehnt haben. Das heißt, es waren wirkliche revolutionäre Entwicklungen, auch wenn sie künstlerisch waren, die eine ganze Reihe von Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen eingeleitet haben, die feministische, die juristische, die sexuelle, die presserechtliche und vieles andere mehr.

Erste Risse in der Betondecke

Über gemeinsame Aktionen mit Valie Export wie das Tapp- und Tastkino oder die Hundenummer wurde im Fernsehen und in den Zeitungen berichtet. Die Leute mussten sich fragen, wie ihr Geschlechterverhältnis war. Die bloße Beschäftigung mit diesen Künstleraktionen und die Diskussion haben das Land wirklich geöffnet, haben in diese Betondecke, die über Österreich gestülpt war, Risse reingebracht.

Das Signaturjahr
Mit seiner damaligen Partnerin, der Medienkünstlerin Valie Export, erregte Peter Weibel (heute 74) Ende der 1960er-Jahre viel Aufsehen, etwa 1968 mit der Aktion „Aus der Mappe der Hundigkeit“. Bild: Joseph Tandl

Und wenn erst mal Risse drin sind, fängt das System an zu bröckeln. Die Universität hat sich reformieren müssen. Auch dass die Sozialdemokraten Anfang der 1970er-Jahre als Minderheitsregierung an die Macht kamen, ist tatsächlich auf solche künstlerischen Umbrüche zurückzuführen.

1968 ist also das Signaturjahr für viele Revolutionen: die Kunstrevolution, die Studentenrevolution, die Pop-Revolution, die Jugendrevolution, die Sexrevolution, die Sozialrevolution. Die Gegenkultur führte nicht nur in Amerika, sondern auch in Österreich zur Cyber Culture. Deswegen wurde 1978 in Linz die Ars Electronica gegründet, deren künstlerischer Leiter ich für viele Jahre war. Die vielen individuellen Freiheiten, die heute viele Menschen genießen dürfen – von der gleichgeschlechtlichen Ehe bis zum Smartphone und der Gründung neuer Parteien aus der Ökologiebewegung –, sind das Ergebnis der Aufbruchsbewegung von 1968.

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