Nach Brand-Inferno ermittelt Scotland Yard wegen fahrlässiger Tötung
LONDON. Grenfell Tower: Londoner Wohnungsgesellschaft und Bezirksrat im Visier der Polizei.
Mehr als sechs Wochen nach dem verheerenden Brand des Londoner Grenfell Towers mit 81 Toten ermittelt Scotland Yard wegen gemeinschaftlicher fahrlässiger Tötung. Im Visier der Ermittler sind der örtliche Bezirksrat von Kensington und Chelsea sowie die Wohnungsgesellschaft, die das Hochhaus verwaltete. Die Polizei vermutet, dass sich beide Organisationen der gemeinschaftlichen fahrlässigen Tötung schuldig gemacht hätten, wie aus einem Schreiben an die Ex-Bewohner des Sozialbaus hervorgeht.
Unterdessen werden immer mehr gefährliche Mängel in anderen Hochhäusern bekannt. Das Feuer am 14. Juni in dem 24-stöckigen Grenfell Tower war durch einen defekten Kühlschrank entstanden. Es konnte sich über die entflammbare Fassadenverkleidung rasend schnell ausbreiten.
Aufgrund der enormen Hitze bei dem Brand könnten möglicherweise nicht alle Opfer identifiziert werden. Bewohner hatten sich vor der Katastrophe immer wieder über Mängel beim Brandschutz beschwert. Inzwischen sind bei Überprüfungen 254 Hochhäuser mit ebenfalls gefährlichen Fassadenverkleidungen entdeckt worden, wie ein Regierungsmitarbeiter am Freitag mitteilte.
600 Hochhäuser überprüft
Landesweit werden 600 Hochhäuser überprüft. Davon unabhängige Tests der Fachzeitschrift "Inside Housing" haben weitere Mängel in Sozialbauten in England festgestellt. Demnach hatten 268 von 436 untersuchten Hochhäusern defekte Feuerschutztüren. Etwa in jedem sechsten Gebäude fehlte eine Notfallbeleuchtung oder sie war nur unzureichend. In Dutzenden Gebäuden hingen Kabel lose von den Wänden. In 73 Hochhäusern gab es laut "Inside Housing" keine oder nur unzureichende Informationen für die Bewohner, was sie bei Feuer tun müssen.
Das Magazin berichtet wöchentlich über den sozialen Wohnungsbau und hatte wiederholt vor Brandschutzmängeln gewarnt. Im Fall des Grenfell Towers begrüßten Betroffenenvertreter die Ermittlungen gegen den örtlichen Bezirksrat und die Wohnungsgesellschaft. Sie sehen die Maßnahme aber nur als ersten Schritt. "Richtlinien werden nicht von Körperschaften gemacht und umgesetzt, sondern von Menschen", betonte die Gruppe "Justice 4 Grenfell" ("Gerechtigkeit für Grenfell") in einer Stellungnahme. Die Betroffenen wollten daher auch einzelne Personen vor Gericht sehen. "Das ist keine Frage des Entweder oder ... Wir wollen beides."
"Anrainer verdienen Antworten"
Die neue Bezirksratschefin Elizabeth Campbell sagte über das Schreiben an die ehemaligen Mieter: "Unsere Anrainer verdienen Antworten auf den Brand im Grenfell Tower, und die polizeiliche Untersuchung wird sie liefern." Der Rat unterstütze die Untersuchung und werde mit der Polizei kooperieren. Campbells Vorgänger sowie der Chef der Wohnungsgesellschaft waren nach dem Brand zurückgetreten.
Unterdessen musste sich am Freitag ein Mann vor einem Londoner Gericht verantworten, der den Behörden vorgelogen haben soll, dass seine Frau und sein Sohn bei dem Feuer ums Leben gekommen seien. Auf diese Weise hat er sich laut Anklage Leistungen im Wert von fast 10.000 britischen Pfund (etwa 11.200 Euro) erschlichen: Hotelübernachtungen, Kleidung, Elektrogeräte und Bargeld.