In Großbritannien steigt die Zahl der Säureattacken

Von Jochen Wittmann, London   12.März 2018

Es war wohl die bisher schlimmste Attacke in einer Reihe von Säureanschlägen, die sich in Großbritannien mittlerweile zu einer Epidemie ausgewachsen hat. Der Teenager Derryck John hatte im Juli letzten Jahres im Londoner Stadtteil Hackney innerhalb von 70 Minuten sechs Säureattacken verübt.

Das Schema war immer gleich. John war Beifahrer auf der Vespa seines Komplizen. Das Paar hielt vor einer roten Ampel neben einem anderen Motorradfahrer. Dann schüttete der 16-Jährige dem Opfer durch das geöffnete Visier eine ätzende Chemikalie ins Gesicht.

Ziel der Attacken war stets der Raub des Motorrads, nachdem der Fahrer ausgeschaltet worden war. Billigend in Kauf nahm Derryck John dabei, dass die Opfer teils schwerste Verletzungen im Gesicht erlitten. Ein Mann verlor 30 Prozent seines Sehvermögens, andere mussten ihre Jobs aufgeben.

Vor dem "Crown Court" im Londoner Stadtteil Wood Green wurde Derryck John nun verurteilt. Heute wird das Strafmaß verkündet. Der Teenager muss mit mindestens zwölf Jahren Gefängnis rechnen.

Mehrheit der Täter ist männlich

Früher wurde Säure hauptsächlich in Beziehungsverbrechen eingesetzt: Eifersüchtige oder zurückgewiesene Männer wollten sich an Frauen rächen. Heute, so Hauptkommissar Simon Laurence von der Polizei in Hackney, "wird Säure von urbanen Straßengangs als Waffe eingesetzt, wie wir es lange nicht gesehen haben.

Die Mehrheit der Opfer sind männlich, und die Mehrheit der Täter ebenfalls." Zwei Menschen kamen bisher ums Leben. Überlebende Opfer erleiden oft sogenannte "lebensverändernde Verletzungen" – Erblinden oder das Gesicht entstellende Narben.

Und die Zahlen steigen: Gab es 2016 insgesamt 454 Attacken. Für 2017 gibt es noch keine Zahlen, aber in den ersten sechs Monaten waren es alleine in England und Wales schon mehr als 400 Vorfälle – das sind rund zwei pro Tag. Die hochrangige Polizeibeamtin Rachel Kearton warnte im Dezember 2017, dass Großbritannien eine der weltweit höchsten Raten an derartigen Angriffen habe, "und die Zahlen scheinen anzusteigen".

Ein Grund liegt auf der Hand. Wer ein Messer in der Öffentlichkeit mit sich führt, macht sich strafbar. Dagegen gilt eine ätzende Flüssigkeit an sich nicht als Waffe. Und wenn man sie in einer kleinen Plastikflasche verwahrt, sieht das unverdächtig aus.

Besonders bei rivalisierenden Jugendgangs gilt Säure mittlerweile als Waffe der Wahl. "Face Melter", Gesichtsschmelzer, heißen sie, oder auch "Folter in der Flasche". Man will, so der Kriminologe Simon Harding, "das Opfer durch einen Akt der Dominanz entstellen und so einen Rivalen ausschalten".

Behörden reagieren zögerlich

Die Behörden haben bisher nur zögerlich auf den beunruhigenden Trend reagiert. Immerhin werden ab Juni neue Richtlinien bei der Strafbemessung gelten, die erstmals ermöglichen, dass "ätzende Substanzen" als hochgefährliche Waffen wie Messer oder Feuerwaffen eingestuft werden können. Das wird Richtern erlauben, höhere Strafen auszusprechen.