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„Wir waren stolz auf unsere Mutter“

Von Von Manfred Wolf   29.August 2009

F reitag, 2. Februar 1945, 0.05 Uhr, Konzentrationslager Mauthausen, Block 20, Todesblock

Bei minus acht Grad reißen die gefangenen russischen Offiziere die Fensterläden auf und springen aus der Baracke. Es sind etwas mehr als 500 K-Häftlinge, die im Ausbruch ihre letzte Überlebenschance sehen, denn das „K“ steht für Kugel, also Tod durch Genickschuss.

Die geschundenen und abgemagerten jungen Männer werfen Steine, Seifenstücke und ihre Schuhe auf die Wachen und versuchen mit Feuerlöschern, deren Sicht einzudämmen. Mit nassen Decken schließen sie den elektrischen Stacheldrahtzaun kurz und klettern in die Freiheit – für hundert von ihnen endet diese im Kugelhagel. 75 für die Flucht zu schwache Männer, die den anderen ihre Kleidung gegeben hatten, werden umgehend hingerichtet.

Jene Kriegsgefangenen, die den Kugelsalven entkommen, fliehen in alle Himmelsrichtungen. Sie tragen lediglich ihre dünnen, grau-blau gestreiften Sträflingsuniformen. Viele von ihnen brechen im tiefen Schnee zusammen und erfrieren, andere werden von der SS, der Polizei und dem Volkssturm gefangen genommen und an Ort und Stelle hingerichtet.

Die Bevölkerung wird informiert, dass mehr als 500 Schwerverbrecher ausgebrochen sind. Zivilisten helfen bei der Suche – auch von ihnen kennen einige keine Gnade.

September 1939, Winden bei Schwertberg, Langthaler-Hof

Maria Langthaler, die Mutter von Anna, verabschiedet sich von vier ihrer sechs Söhne, die zum Kriegsdienst antreten müssen. Sie verspricht ihnen, jeden Tag in der Kirche um die gesunde Rückkehr zu beten.

Die drei Töchter, Friedl, der als 14-Jähriger bei einem Unfall beim Dreschen ein Auge verloren hat und Josef, der zu Kriegsbeginn erst elf Jahre alt ist, können zu Hause bleiben. Josef muss allerdings kurz vor Kriegsende als 16-Jähriger einrücken.

„Meine Mutter hat immer gesagt, ‚dieser Hitler bringt Unheil‘“, erinnert sich die heute 78-jährige Anna Hackl. „Sie war immer eine Gegnerin.“ Als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, musste sie zusehen, wie ihre Söhne in den Krieg zogen. „Sie hat bitterlich geweint“, sagt Anna Hackl, die zu Kriegsbeginn ein achtjähriges Mädchen war. „Ich habe das damals nicht verstanden. Heute habe ich selbst fünf Kinder und kann mir vorstellen, was sie gefühlt haben muss.“

Anna Hackls Brüder kamen alle unversehrt nach der Gefangenschaft zurück. „Das war gottgewollt. Viele Menschen sind gestorben, andere haben einen oder beide Füße verloren, manche starben an den Folgen der Verletzungen. Vom Krieg erzählt hat niemand. Wahrscheinlich, weil er zu grausam und zu brutal war.“

Samstag, 3. Februar 1945, 6.30 Uhr, Winden bei Schwertberg, Langthaler-Hof

Die beiden ukrainischen Offiziere Nikolai Zemkalo und Michael Rjabtschinkij haben es bis nach Winden geschafft. Um zu überleben, müssen sie essen. Michael, der etwas Deutsch spricht, überwindet sich und klopft am Hintertor eines Bauernhauses, dem Hof der Familie Langthaler.

„Ich bin Dolmetscher. Ich komme aus Linz. Ich bitte um etwas zu essen.“

„Ich weiß, wer du bist. Ich habe auch fünf Söhne im Krieg und will, dass alle nach Hause kommen. Und du wirst auch eine Mutter haben, die auf dich wartet.“

Maria Langthaler lässt den Flüchtling herein und gibt ihm zu essen. Misstrauisch sieht sich dieser im Haus um, ob er ein Hitlerbild ausmachen kann. Maria Langthaler spricht indes mit ihrem Mann:

„’S is ana då.“

„Jå, i håb’s g’hört.“

„Höf ma eam?“

„’S geht net. Du waßt, wås då

drauf is. Wir kuman ålle

draun.“

„Und wås, waun unsere

Buam a Hüfe brauchat’n?“

„Tua wås d’ wüst, oba de

Verauntwortung muaßt

du trågn. Für de gaunze

Familie.“

Sonntag, 4. Februar 1945, Winden

Anna ist mit ihrer Mutter auf dem Weg zur Kirche, als ihnen ein SS-Trupp mit Spürhunden entgegenkommt. Die beiden gehen weiter. Wenige Meter später sagt Maria zu ihrer Tochter: „Du musst heimlaufen. Versteckt die beiden und ihr Geschirr im Heu.“

Anna will nicht, zu groß ist ihre Angst. „Du musst!“, befiehlt ihre Mutter. Die 13-Jährige läuft nach Hause, vorbei an einem bereits von der SS umstellten Bauernhaus, und warnt die Gesuchten, die sich dann im Heustadl verstecken. Wenig später durchsucht die SS den Hof der Langthalers und den Stadl mit Heugabeln. Nikolai und Michael spüren die Soldaten über ihnen, werden jedoch von den Heugabeln nicht getroffen. Auch die Hunde nehmen keine Witterung auf. Die SS zieht wieder ab.

„Ja, meine Mutter hat uns in Gefahr gebracht. Hätten sie jemanden entdeckt, wir wären alle erschossen worden“, sagt Anna Hackl. „Dennoch: Wir waren und sind immer noch stolz darauf, was meine Mutter gemacht hat.“

Seit der Verfilmung dieser Geschichte ist Anna Hackl regelmäßig an Schulen Oberösterreichs, um darüber zu berichten – einmal sogar in Potsdam. Busweise kommen Schüler, auch aus Bayern und Tirol, zu ihr nach Hause, wo sie den Schülern den Heustadl zeigt. „Das passt nicht allen, viele sagen, ich soll endlich aufhören damit, die Geschichte ruhen lassen. Aber so lange ich kann, werde ich weitermachen“, sagt Anna Hackl.

Nach dem Krieg, als bekannt wurde, was die Familie Langthaler gemacht hat, erhielten sie anonyme Drohbriefe. „Nazis gab es überall noch nach dem Krieg“, sagt sie. „Vielen hätte es auch gefallen, wären wir aufgeflogen.“

Unwahrscheinlich war es nicht, dass jemand die Ukrainer entdeckt. Sie halfen am Bauernhof mit und rund um Winden wurden Schützengräben angelegt. Das Militär war also in der Nähe. Die Gefahr, entlarvt zu werden, bestand bis zum letzten Kriegstag, und niemand wusste, wann dieser sein wird. „Es war eine lange Zeit bis Mai“, sagt Anna Hackl.

Nachdem Michael und Nikolai, einen Monat nach Kriegsende, wieder in ihre Heimat gingen, riss der Kontakt völlig ab. Erst 19 Jahre später wurde dieser zufällig wieder hergestellt. Ein sowjetischer Journalist war in Schwertberg und veröffentlichte in seiner Heimat einen Artikel darüber. Auf diesen haben sich Nikolai und Michael gemeldet.

„Sie durften nach Schwertberg reisen, aber jeweils nur mit einer Begleitperson“, sagt Anna Hackl. Immerhin war es die Zeit des Kalten Krieges. Maria Langthaler wurde später nach Russland eingeladen. Sie starb 86-jährig im Februar 1975. Michael, der letzte Überlebende der Hasenjagd, starb am 7. Februar 2008. Er wurde 93 Jahre alt.

3. Februar 1945, Volksschule Ried/Riedmark

Im Lichthof der Volksschule Ried werden 40 im Umkreis aufgegriffene und an Ort und Stelle hingerichtete Flüchtlinge gestapelt und im Laufe des Tages abtransportiert. Bevor sie aus nächster Nähe erschossen wurden, flehten und bettelten viele von ihnen noch um ihr Leben.

Von den mehr als 500 russischen Männern, Vätern und Söhnen wurden fast alle ermordet. Zwischen elf und 17 dürften überlebt haben – dank dem Mut jener Familien, die ihnen Kleidung und zu essen gaben und sie in manchen Fällen bis zum Kriegsende versteckt hielten.

„Wenn ich heute höre, dass jemand sagt ‚Einen kleinen Hitler bräuchten wir‘, dann finde ich das schrecklich. Die Jugend muss auf der Hut sein, dass sie nie wieder einem ‚Schreienden‘ wie dem Hitler nachläuft“, sagt Anna Hackl.

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28. März 2024