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„Der Krieg ist im Kopf“

Von Von Helmut Atteneder, 27. August 2009, 00:04 Uhr
„Der Hitler war ein Bazi“
Simon Klinger, Flakschütze im Zweiten Weltkrieg. Diese Zeit lässt den 93-Jährigen nicht mehr los. Bild: Privat

LOCHEN. Am 1. September 1939 bricht der Zweite Weltkrieg aus, und ein 22-jähriger Lochener marschiert mit der Deutschen Wehrmacht in Polen ein: Simon Klinger hat sechs Jahre Krieg überlebt, der Krieg in seinem Kopf wird aber nie aufhören. Von einer Vergangenheitsbewältigung ohne Happy End.

Es ist Dienstag, der 25. August 2009, knapp vor 13 Uhr. Simon Klinger sitzt auf seiner hölzernen Gartenbank, vor dem Bauernhaus in Tannberg 3, dem letzten Haus der Gemeinde Lochen im Bezirk Braunau. In der rechten Hand den Gehstock, am Kopf der Lieblingshut, über den Schultern der grün-schwarz karierte Feichta-Schampa. Seit acht Uhr sitzt der 93-Jährige da und wartet. „Morgen kommt einer, dem kannst erzählen, der will dir zuhören“, hat ihm seine Tochter Maria am Vortag verkündet. In der Nacht war an Schlaf nicht zu denken, sagt er später. Aber das sei normal, denn in der Nacht herrscht Krieg in seinem Kopf. Vom ersten bis zum letzten Tag hat er im Zweiten Weltkrieg als Flakschütze gekämpft.

Klingers Sechs-Jahre-Krieg

Das hat sich eingebrannt im Schädel: der Tritt auf den Schussauslöser, die Schreie der Verwundeten, die gespannte Stille des Wartens auf den Gegenschlag der Alliierten in der Normandie, die Schmerzen von zwei buchstäblichen Schüssen ins Knie oder wie er dem Reifeshammer Karl gleich zwei Mal das Leben gerettet hat.

Täglich muss er vom Krieg erzählen, und wenn er nicht redet, dann sind da diese Gedanken im Kopf, die er nicht abdrehen kann. Da ist er anders als ein ehemaliger Kriegskollege im Ort drunten: Der redet nicht mehr, sei ganz eigen geworden, seit er aus der Gefangenschaft zurück ist.

„Was willst wissen?“

„Am 1. September 1939 ist der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Sie waren dabei, in Polen. Erzählen Sie bitte.“

„Ich war auf Urlaub daheim, drei Wochen Sonderurlaub, das hat man sich selber zahlen müssen. Es war bei der Landwirtschaft zum Mithelfen. Den dritten Tag war ich daheim, da kommt ein Telegramm:

Sofort zur Truppe zurück … stopp … wegen Übung … stopp …“

Am Telegramm prangt der Hakenkreuzstempel, die Hoffnung, es handle sich um einen Irrtum, ist schnell verflogen. Der Vater geht mit zum Bahnhof in Lengau. „G’flennt hat er, so hat es ihn g’stiert, dass ich wieder weggehen muss.“

Freifahrt in den Krieg

Am Bahnhof sagt der Vorstand: „Simon, brauchst dir keine Fahrkarte kaufen, kannst so mitfahren, weil Krieg wird.“ Auf dem Weg in die Kaserne nach Göppingen wächst sich die Schar der Reservisten und Urlauber, die ebenfalls ein Telegramm erhalten hat, zu Kompaniestärke aus. Es hat sich herumgesprochen, was los ist. Der Führer hat den Polen den Krieg erklärt. Klinger erinnert sich genau: „Es hat geheißen, der Pole hat auf die Deutschen geschossen und somit dem Krieg ang’hebt.“

Als der 22-Jährige bei der Kaserne eintrifft, ist sie leer, die dritte Batterie ist schon gefechtsmäßig angetreten. Klinger fasst schnell Proviant aus und Ausrüstung, die Fahrt nach Polen beginnt. Klinger und seine Kameraden wissen, was jetzt kommt.

Die Geschütze sind geladen, die Rohre zeigen auf Warschau. Dann dass Kommando „Gruppenfeuer, Gruppe!“. Schütze Klinger löst mit seinem rechten Fuss einen Mechanismus aus. Die Granate zischt, ein paar Sekunden später schlägt sie ein. Der 22-Jährige schaltet sein Hirn aus, denkt vorschriftsmäßig: „Das ist jetzt der Krieg.“

70 Jahre später lässt sich der Krieg im Kopf nicht mit einem eingedrillten Hilfssatz ausblenden. Die ganze Nacht lang führt er Krieg, der Schalter lässt sich nicht umlegen: „Ich mag nicht mehr lachen, ich mag überhaupt nicht mehr.“ Die Erlebnisse sind in Gedanken eingebrannt, laufen ständig im Kreis, wie eine schadhafte Schallplatte, die immer wieder an dieselbe Stelle springt.

Helm im Kopf

Dabei will er sich im Krieg wenig gefürchtet haben, obwohl es Tage gegeben hat, da hätte er dreimal sterben können. Der Zweite Weltkrieg ist nicht nur im Kopf eingebrannt, auch außerhalb.

„Da greif her. Spürst das?“, sagt Simon Klinger.

„Die Verknorpelung entlang am Hinterkopf, knapp über der Nackenfalte?“

„Wenn du sechs Jahre lang den Stahlhelm nicht absetzt, dann wächst er dir in den Schädel eini.“

Simon Klinger hat den Stahlhelm auch im Bett nicht abgenommen, denn immer wieder sterben Kameraden, die bei plötzlichen Alarmen ohne Helm ins Freie laufen und von Flaksplittern am Kopf getroffen werden. Einmal im Monat wird Klinger ein weiteres Mal an den Krieg erinnert. 15 Euro bekommt er Kriegsgefangenenzulage auf sein Pensionskonto überwiesen. „Ein Kistl Bier.“

Irgendwann in den ersten Septembertagen 1939, wenige Kilometer vor Warschau, trifft Simon Klinger während einer Feuerpause auf den Führer. „Schau, da unten stehen lauter Offiziere, da ist der Hitler dabei“, sagt Kamerad Hemetsberger aus Redl-Zipf.

Und dann? Klinger: „Der ist auf einmal zu uns heraufgekommen und hat mich gefragt:

Hitler: „Von wo sind Sie denn?

Klinger: „Von Lochen.“

Hitler: „Wo ist das?“

Klinger: „Bei Straßwalchen.“

Hitler: „Ja, da sind wir ja fast Nachbarn! Haltet euch, in drei Wochen ist der ganze Spuk vorbei.“

OÖN: Was sagt man darauf?

Klinger: „Jawoll, mein Führer. Da hat man nicht auskönnen. Es war ein komisches Gefühl. Dann ist er weiter hinauf‘gangen, hat durch sein Fernrohr geschaut und gesagt:

Hitler: Die ganze Stadt scheint zu brennen.“

Ein paar Monate später erfährt Klinger, dass der vermeintliche Kriegsauslöser auf einer geschickt inszenierten Falschmeldung beruhte: „Von dem Zeitpunkt an habe ich gewusst, dass der Hitler ein Bazi ist.“

Polen ist schnell vorbei, Klinger freut sich auf zu Hause. Doch da wird er nach Frankreich umgeleitet. Russland bleibt ihm erspart, aber er muss in die Normandie.

Sein Innviertler Sturschädel bringt ihn gefährlich mit der Nazi-Obrigkeit in Konflikt. Ein damaliger Nazi – er war in Lochen für die Ausgabe der Essensmarken zuständig – hatte seinen Eltern verboten, ein Schwein zu schlachten. „Dabei war es ohnehin krank. Da habe ich heimgeschrieben: Wenn ich heimkomme, dann bringe ich den Kerl um.“ So weit kommt es nicht, doch der Mann – er wird nach dem Krieg Mesner in Seekirchen – meldet den Vorfall der SS. Klinger muss für seine Äußerung vor ein Kriegsgericht. Drei Wochen verschärften Kerker fasst er für den Drohbrief aus, tagelang ohne Essen, kaum Trinken, wenig Licht in Einzelhaft.

„Waren Sie ein Nazi?“

Klinger: „Mein Vater war einer – vor dem Krieg. Ist hinüber zu einem Nachbarn, der damals einen Volksempfänger gehabt hat, und hat mitgehorcht, wenn der Bazi zu hören war. Wie er erkannt hat, dass Krieg wird, hat er nichts mehr wissen wollen davon. Er hat bei den hohen Herren probiert, sie zu bestechen. „A halbe Sau, damit der Bua frei kommt. Nix. Er hat Angst gehabt, dass sein einziger Bua umkommt.“

„Aber Sie selbst?“

„Wenn man gesehen hat, wie es zugeht an allen Fronten, nein. Ich war drei Wochen im Gefängnis wegen meiner Aktion gegen den Nazi in Lochen. Das tut kein Nazi. Aber ich war damals schon jung und dumm.“

Dass er wieder heimgekommen ist, verdankt Simon Klinger seiner Mutter, davon ist er überzeugt. Sie hat ihm vor dem Abmarsch nach Polen einen geweihten Brief in die Hände gedrückt: „Pass auf, Bua.“

Als er im Juli 1945 heimkommt, trifft er am Hof auf einen Fremden. Ein Zwangsarbeiter. Er ist Pole. Die beiden werden einander nicht grün. „Ich habe ihm gesagt, dass ich in Polen dabei war, ich wollte ehrlich sein.“ Was er gesagt hat? „Bazi.“

Zwei Stunden lang hat Simon Klinger vom Krieg erzählt, dreimal verlängert er das Gespräch („Kimm, sitz di no amoi schnell her“), dann winkt er nach, bis er hinter dem Horizont verschwindet. Er weiß: Die nächste Nacht wird sehr lang werden.

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