"Wir haben uns motiviert und gesagt: Das packen wir schon"

Von Von Anneliese Edlinger und Wolfgang Braun   31.Dezember 2015

"Mein Gott, so viele..." Das dachte sich Bürgermeister Franz Saxinger, als die ersten 270 Flüchtlinge nach Kollerschlag kamen. Dabei war das nur der Anfang. Am Ende passierten hier mehr als 60.000 die Grenze nach Deutschland. Im Interview spricht Saxinger über seine "härtesten Wochen als Bürgermeister".

 

OÖNachrichten: Herr Bürgermeister, wie war das heuer, als plötzlich die Weltpolitik in Kollerschlag so hautnah zu spüren war?

Franz Saxinger: Das war ein einschneidendes Ereignis für die ganze Gemeinde. Richtig losgegangen ist es am 14. September, dem ersten Schultag. Ich saß mit meinen Lehrern bei der Konferenz, als ich einen Anruf von der Bezirkshauptfrau bekam. "Herr Bürgermeister, wir brauchen sofort ein Notquartier für Flüchtlinge. Was wäre mit eurer Stockschützenhalle?", hat sie zu mir gesagt. Als ich nach der Konferenz nach Kollerschlag gefahren bin, waren schon 270 Flüchtlinge da. "Mein Gott, so viele", haben wir gesagt. Die ganze Halle war voll. Zuerst war ausgemacht, die Stockschützenhalle nur für eine Woche zu verwenden und dann nach Julbach auszuweichen. Aber weil sich das dortige Quartier geographisch als ungünstig herausgestellt hat, haben sie uns wieder ersucht, die Stockschützenhalle längerfristig zu verwenden. Es gab dann eine Vorstandssitzung der Sport-Union, da ist die Abstimmung neun zu acht für die Flüchtlingsaufnahme ausgegangen. Ganz knapp.

Spiegelt das knappe Ergebnis die Stimmung in der Gemeinde in der Flüchtlingsdebatte wider?

Das war eine Momentaufnahme und hat sich mit der Zeit verändert. Ich würde es so sehen: Ein Drittel der Bevölkerung war letztlich positiv gegenüber den Flüchtlingen eingestellt, ein Drittel war komplett dagegen und ein Drittel war unsicher.

Das Notquartier war nur der Anfang. Dann kamen täglich bis zu 2000 Flüchtlinge nach Kollerschlag, die über die Grenze nach Deutschland marschiert sind. Wie konnte man das bewältigen?

Es war eine riesige Herausforderung. Die Flüchtlinge sind in Bussen angekommen und wurden erst einmal versorgt. Die Halle war geheizt, da konnten sie schlafen. Viele Familien sind über Nacht geblieben und in der Früh losgegangen. Manche konnten es aber nicht erwarten und sind gleich weiter Richtung Grenze marschiert. Durch die Ortschaft Mistelberg am kleinen Güterweg-Grenzübergang Fuchs-Oed, der nach Wegscheid in Bayern führt. Das waren richtige Prozessionen. Unvorstellbar, dass sich da solche Karawanen durch unseren Ort bewegt haben. Aber all die Befürchtungen, die via Facebook oder sonst geäußert wurden, von Diebstählen oder Vergewaltigungen – null ist passiert, nichts. Und es ist den Leuten schon nahegegangen, als diese Karawane durch Mistelberg gezogen ist. Die Einheimischen sind ihrem Tagwerk nachgegangen – und daneben marschiert eine Karawane von Flüchtlingen mit Säuglingen und kleinen Kindern.

Insgesamt sind mehr als 60.000 Flüchtlinge über Kollerschlag nach Deutschland gekommen.

Zu eskalieren begann das Ganze, als Deutschland nur noch 50 Personen pro Stunde eingelassen hat. Plötzlich stauten sich 600 oder mehr Menschen an der Grenze. In dieser Phase war es wichtig, dass man live dabei ist, da gab es schon Probleme mit den Anwohnern.

Hatten Sie Angst, dass das Ganze außer Kontrolle gerät?

Angst hatte ich nicht, aber ich habe gespürt, es besteht Handlungsbedarf, damit es nicht zur Eskalation kommt. Es gab ja Unruhe unter den Flüchtlingen, weil sie nicht weiterkonnten. Da war es wichtig, dass immer Dolmetscher da waren. Die konnten den Flüchtlingen die Angst nehmen. Wir haben geschaut, dass wir negative Auswirkungen für die Bevölkerung minimieren. Es ist vorgekommen, dass Flüchtlinge in manches Gärtchen hineingemacht haben. Wir haben mobile Toiletten organisiert, alles musste schnell gehen. Alle, die mitgearbeitet haben, Polizei, Feuerwehr, Rotes Kreuz, Vereinsobleute und die vielen anderen Helfer – wir haben uns gegenseitig motiviert und gesagt: Das packen wir schon.

Gab es Anfeindungen?

Ich habe Rücktrittsaufforderungen bekommen, aber auch viele positive Rückmeldungen. Zum Teil kamen Vorwürfe von Personen, wo ich nie damit gerechnet hätte und persönlich sehr enttäuscht war. Aber grundsätzlich darf man nicht alles in die Waagschale werfen, was in der Emotion gesagt wird. Es muss einem bewusst sein, dass man als Bürgermeister für viele der Reibebaum ist. Die Leute sind manchmal sehr direkt oder grob, meinen es aber nicht immer so. Das kommt in so einer Ausnahmesituation stärker raus. Es gab auch die Ankündigung: Bei der Wahl werden wir es euch zeigen. Es hatte auch Auswirkungen. Wir von der ÖVP haben zwei Mandate verloren. Die FPÖ ist von zwei auf fünf gestiegen. Das war schon frustrierend.

Hat diese Flüchtlingswelle Sie persönlich verändert?

Sie hat mich sensibilisiert. Früher saß man bequem auf der Couch und hat in den Nachrichten gesehen, wie in Syrien Bomben hochgehen. Plötzlich war alles hautnah da. Mir ist viel bewusster geworden, dass man sich Freiheit und Wohlstand täglich erkämpfen muss. Das ist kein Automatismus, da braucht es immer Menschen, die positiv am großen Ganzen mitarbeiten.

Haben Sie Flüchtlinge auch kennengelernt?

Ich habe mit vielen geredet, ich hatte schon den Eindruck, dass das gebildete Menschen sind. Es gab einen alten Mann, den sie "Champion of Syria" nannten, weil er ein bekannter Ringer war.

Hat die Flüchtlingswelle auch Kollerschlag verändert?

Das Verhältnis untereinander hat sich ein bisserl geschärft. Man weiß jetzt, wer wo steht.

Haben Sie sich von EU-, Bundes- oder Landespolitik im Stich gelassen gefühlt?

Einfach haben die es nicht. Aber man würde sich wünschen, dass es schneller Ergebnisse gibt, auch wenn es in der EU schwierig ist, alle unter einen Hut zu bringen. Wichtig ist, dass jetzt Asylanträge rasch bearbeitet werden. Denn auch wenn viele Bürger humanitär eingestellt sind, fragen sie sich: Können wir das schaffen mit der Integration? Sind alle Flüchtlinge integrationswillig? Das geht den Leuten zu Recht durch den Kopf.

Würden Sie heute wieder in die Kommunalpolitik gehen?

Ganz klar Ja. Ich bin ein richtiger Eingeborener in Kollerschlag. Ich wollte immer mehr aus unserem Ort machen, und das ist auch heute noch so. Aber ich muss schon sagen: Heuer, das waren die härtesten Wochen in meinen 20 Jahren als Bürgermeister.

Brennpunkt Kollerschlag

3500 Menschen haben zusammengeholfen – freiwillige Helferinnen und Helfer, Rotkreuz-Mitarbeiter, Polizisten, Feuerwehrleute, Menschen aus Österreich und Deutschland, Jung und Alt – um die Flüchtlingssituation in Kollerschlag zu meistern.

Um die 62.000 Menschen haben die Helfer in zehn Wochen versorgt. An die 4000 davon wurden ärztlich behandelt. Die Hilfe der Bevölkerung war beeindruckend, und auch wenn Prognosen schwierig sind, ist es mehr als wahrscheinlich, dass das Transitzelt in Nebelberg früher oder später in Betrieb gehen wird. Das Rote Kreuz, die Polizei und auch der „zivile“ Bezirk Rohrbach sind für die Zukunft gewappnet.

Kollerschlag ist vorerst wieder von der Bühne der Weltpolitik abgetreten und kann durchatmen. Das Transitzelt in Hanging ist abgebaut und der Übergang wieder frei passierbar. Die Versorgungscontainer wurden nach Nebelberg überstellt und werden dort zwischengelagert. Binnen 72 Stunden kann hier ein Transitzelt in Betrieb gehen.

Kollerschlag im Blcikpunkt der Weltpresse

Als Kulturjahr sollte 2015 in die Chroniken der 1500-Seelen-Marktgemeinde eingehen. Dass an der „Kulturwelle“ – das namensgebende Reiter-Kunstwerk steht an den Pforten Kollerschlags – die Flüchtlingswelle vorbeirollen sollte, konnte hier am Rande des Mühlviertels niemand ahnen. Ein Anruf der Bezirkshauptfrau sollte aber alles ändern und den historischen Markt in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken. Am ersten Schultag, dem 14. September, wurde vorerst für eine Woche in der Stocksporthalle ein Notquartier eingerichtet. Nach einem Zwischenspiel in Julbach (rund um den Wahltag am 27. September) kehrten die Hilfskräfte mit den Flüchtlingen zurück nach Kollerschlag und in die Grenzorte in der Gemeinde. Rund um den Nationalfeiertag eskalierte die Situation insofern, als Bayerns Grenzen undurchlässiger wurden. Kleine Grenzübergänge an Güterwegen waren völlig überlastet. Daraufhin wurde in Hanging eine Wartezone eingerichtet – später auch ein Zelt aufgestellt. Fordernd war nicht nur der Andrang von Flüchtlingen, sondern auch das große Medieninteresse. Große und kleine Medienhäuser Deutschlands hatten Übertragungswagen positioniert und berichteten in den verschiedensten Nachrichtenformaten. Live-Schaltungen nach Kollerschlag standen im Herbst an der Tagesordnung. Auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete über Kollerschlag und Franz Saxinger sowohl online als auch in der Print-Ausgabe. Den Gipfel des Medieninteresses löste der Besuch des deutschen Kanzleramtsministers Peter Altmaier am 4. November aus. Dieser zeigte Wirkung, die Abwicklung gelang danach koordinierter.     (fell)