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USA, Land der Widersprüche

Von Klaus Buttinger, 03. November 2012, 00:04 Uhr
USA, Land der Widersprüche
Bild: EPA

Zwischen Aufklärung und Bibelwahn, Patriotismus und Occupy-Bewegung: ein Versuch, die US-Diskrepanzen zu erklären von Historiker Marcus Gräser.

OÖN: Beginnen wir mit der staatlichen Krankenversicherung: in Europa Standard, in Österreich seit 100 Jahren erprobt, in den USA entzündet sich fast ein Aufstand darob. Warum?
Gräser: Zum einen ist es der Umstand, dass Amerika aus seiner historischen Prägung heraus den Staat nicht als Partner, nicht als Vater oder Fürsorger erlebt hat. Die ursprüngliche Empfindung in den englischen Kolonien war, dass der Staat weit weg und tyrannisch ist. Die eigene Republiksgründung war also gegen einen Staat gerichtet. Staat ist seitdem in der amerikanischen Mentalität – sehr vereinfacht – immer ein Bedränger, einer, der nimmt aber wenig gibt. Deshalb ist von den meisten Amerikanern kein Vertrauen da. Zum anderen gab es bei der jüngsten Gesundheitsreform eine knallharte Interessenspaltung mit starkem Lobbyismus dagegen, nämlich von Ärzten, der Pharmaindustrie und vor allem von privaten Versicherern.

Die fast schon feindselige Einstellung zum Staat wird jedoch, konterkarikiert durch einen übersteigerten Nationalismus, allein wenn man an den Fahneneid in den Schulen denkt …
Ja, man ist patriotisch, was aber nicht heißt, dass man einen versorgenden Staat dafür erwartet. Dieser Patriotismus läuft eher nach dem Muster ab „Was kann ich tun?“ und nicht „Was kann der Staat für mich tun?“ Präsident Kennedy hat damit eine Saite in der amerikanischen Seele zum Klingen gebracht.

Auffallend ist einerseits der schwache Staat nach innen und andererseits das außenpolitische Auftreten als Weltpolizist. Wie geht das zusammen?
Es gibt sehr wohl einen starken Staat – einen Sicherheits- und Militärstaat. Er ist Teil der Identität, weil er nicht als einer empfunden wird, der in das Leben des Einzelnen hineindrängt. Vielmehr ist es ein Staat, der nach außen hin dafür sorgt, dass das amerikanische Gemeinwesen stark sein und seinen Wohlstand bewahren kann.

Es gibt den Hang zur exzessiven Darstellung von Reichtum und dem gegenüber einen stark ausgeprägten Puritanismus. Wie passt das zusammen?
Beides ist zurückzuführen auf eine religiöse Wurzel, die man protestantische Arbeitsethik nennen kann. Das heißt: Ich muss mein Leben auf Gott hin orientieren und auf meine Arbeit. Wenn ich dabei einen entsprechenden Erfolg habe, darf ich den auch zeigen. Aus diesem religiösen Kontext heraus hat sich eine gesellschaftliche Leistungsethik entwickelt. Das soll aber nicht den Eindruck erwecken, dass die USA ein hartherziges Land wären. Viele, die wohlhabend sind, sind in aller Regel bereit, durchaus erhebliche Summen für wohltätige Zwecke zur Verfügung zu stellen.

Nun funktioniert das offensichtlich nicht. Die Zahlen der Arbeits- und Obdachlosen sind hoch. Man hat den Eindruck, die heile Welt existiert nur noch in Hollywood …
Die Ursache dieser Diskrepanz ist das hohe Maß an sozialer Ungleichheit, die aus dem unterschiedlichen Zugang zu Erwerbschancen und Bildung resultiert. Das hängt auch damit zusammen, dass sich Amerika immer auf die Dynamik einer Einwanderungsgesellschaft verlassen kann. Bei denen, die in Amerika unten sind, gibt es das Gefühl, dass sich das nur um eine Übergangsphase handeln kann, und dass schon die Kinder eine ganz andere Rolle spielen können. In Europa ist es seit dem 19. Jahrhundert eher so, dass es keinen sozialen Aufstieg gibt.

„Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist aber doch bloß ein Mythos, oder?
Das ist natürlich ein Märchen. Aber immer, wenn ich es höre, fällt mir der Pförtner an der University of Chicago ein. Ein älterer Schwarzer, der die Taschen kontrollierte, damit keiner ein Buch aus der Bibliothek klaut. Irgendwann erzählte er mir, dass seine beiden Töchter an der Universität studieren. Er ist nur ein kleiner Angestellter, aber seine Kinder werden ein ganz anderes Leben führen können als er.

Ist die Chancengleichheit in den USA höher als in Österreich?
Ich will das System in den USA nicht glorifizieren. Was es dort aber gibt, ist eine höhere Dynamik, die mitunter größere Spielräume eröffnet. Es gibt eine Durchlässigkeit und eine größere Bereitschaft zur Egalität, die man auch im Alltag bemerkt. Die Putzleute in unserem Institut in Washington kamen aus Guatemala. Sie sind am Abend durch das Haus gelaufen und haben mit den Leuten geredet. Hier kommt kein Putzmann in mein Büro herein und will mit mir plaudern. Als Amerikaner wird man daran gemessen, ob man sein Versprechen auf eine Republik gleicher Bürger auch in seinen alltäglichen Umgangsformen einhält. Wehe man verhält sich als Snob! Unsere Sozialbeziehungen in Europa sind hingegen stark geprägt von der alten Klassengesellschaft. Man weiß ungefähr, in welche Ecke man gehört und kommuniziert mehr oder weniger selbstverständlich nur mit Leuten aus dem eigenen Kreis.

Die politische Spreizung ist weit: von der rechtsextremen Tea-Party mit ihrem individualistischen Freiheitspathos bis zur Occupy-Wall-Street-Bewegung, die für Umverteilung eintritt. Dennoch spielen nur zwei Parteien eine echte Rolle. Wie kommt das?
Weder von links noch von rechts hat es je einen Anlauf zu einer Massenbewegung gegeben, die in der Lage war, sich ins politische System einzugraben. Diese Bewegungen sind wie Bienen: Sie stechen und sie sterben. Gewissermaßen verpassen sie einer Partei einen Adrenalinstoß und sorgen dafür, dass gewisse Forderungen aufgenommen werden, aber damit sind sie im Grunde genommen erledigt. Die große Partei hat sich immunisiert. Beispielsweise nimmt die demokratische Partei bis zu einem bestimmten Punkt Anregungen von links auf, aber zugleich muss sie dafür Sorge tragen, dass ihr da keine Konkurrenz erwächst. Das heißt: Man gibt immer so viel nach, wie zum Machterhalt nötig ist und ohne dass es zur Herausbildung einer wirklich linken Konkurrenzpartei kommt. Ähnlich ist das Verhältnis der Republikaner zu all diesen evangelikalen oder ideologisch rechten Gruppen wie der Tea Party usw.

Brauchen die Amerikaner einen neuen New Deal, quasi ein neues Raumfahrtprogramm als fokussierte Herausforderung, um aus der Wirtschaftskrise herauszukommen?
Amerika muss in der Lage sein, den Wohlstand, den es trotz allem noch hat, zu bewahren und gerechter zu verteilen. Das ist die Herausforderung, vor der die amerikanische Politik steht, in einer Welt, die nicht mehr so selbstverständlich auf die amerikanische Führerschaft schaut. Ich würde mir manchmal wünschen, dass Amerika mehr nach innen schaut, etwa auf die Infrastruktur, und mit gewissem Pathos sagt: „Es gibt viel zu tun.“

 

Der Historiker weiß, wie die US-Amerikaner ticken
Historiker Marcus Gräser ist seit einem Jahr Institutsvorstand und Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Sein Schwerpunkt: nordamerikanische und zentraleuropäische Geschichte sowie die Geschichte der Wohlfahrtsstaaten. Der gebürtige Deutsche studierte in Frankfurt a. M., seine Wanderjahre nach der Promotion führten ihn an die University of Chicago und als stv. Direktor an das Deutsche Historische Institut in Washington, DC.

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1  Kommentar
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( Kommentare)
am 03.11.2012 18:20

lesenswert! SO IST DIE USA!

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