Ist das die neue Völkerwanderung?

Von Roman Sandgruber   05.September 2015

Plötzlich wird eine Epoche wieder brandaktuell, die man längst auf dem Müllhaufen der Geschichte wähnt: die Völkerwanderung. Umberto Eco prophezeite schon 1990, dass wir in ein neues Zeitalter der Völkerwanderung eintreten würden, und sah deutliche Parallelen mit der Zeit und den Ereignissen vor mehr als 1500 Jahren, als von Norden und Osten her hungrige Zuwanderer in das Römische Reich drängten und es schließlich zu Fall brachten.

Wie bei allen großen Migrationsbewegungen, der Völkerwanderung der ausgehenden Antike ebenso wie bei der transatlantischen Amerikawanderung der frühen Neuzeit, war das Ergebnis nicht nur eine Frage der Farbe der Haut, Haare oder Augen, der Ess- und Kleidungsgewohnheiten, sondern auch eine weitgehende ethnische und kulturelle Neuordnung, eine Veränderung der Sitten, der Sprache, der Religion, der Normen. Eco sah es als Chance, die die Herausbildung der abendländisch-europäischen Kultur mit sich brachte. Was Eco übersah oder nicht sehen wollte: Es dauerte mehr als ein Jahrtausend, bis Europa wieder jenes Niveau der Einkommen, der Rechtssysteme, der wissenschaftlichen Kenntnisse und der künstlerischen Vollkommenheit erreicht hatte, das es in der Zeit des römischen Weltreiches bereits einmal gab.

Große Wanderungsbewegungen und Völkerwanderungen gab es viele. Als "Völkerwanderung" im engeren Sinn versteht man jene etwa zwei Jahrhunderte vom ersten Einbruch der Hunnen im Jahr 375 nach Christus über die Eroberungszüge der Ost- und Westgoten, Vandalen, Alanen, Sueben, Sachsen, Angeln und Jüten und der Machtergreifung Odoakers in Rom im Jahr 476, die häufig als formeller Untergang des Römischen Reiches genannt wird, bis zum Eindringen der Langobarden nach Italien im Jahr 565 und der Errichtung des Reichs der Franken im Raum zwischen Pyrenäen und Rhein. Es dauerte bis ins zehnte Jahrhundert, bis sich die neuen Herrschaftsbereiche, Königreiche und Ethnien gefestigt hatten, die Europa bis in die Gegenwart prägen.

Der Begriff der Völkerwanderung geht auf den Humanisten Wolfgang Lazius zurück, der 1557 sein Werk "Über die Wanderungen der Völker" veröffentlichte. Aber erst am Höhepunkt des Nationalismus im 19. Jahrhundert wurde das Wort zu einer festen Epochenbezeichnung. Die moderne Geschichtsforschung hat damit nicht wirklich viel Freude. Denn die etwas naive Vorstellung, riesige "Völker" seien aus ihrer "Urheimat" als geschlossene Verbände aufgebrochen, seien auf der Wanderung brandschatzend durch Europa gezogen und hätten sich am Ende irgendwo fremdes Land erobert, trifft nicht zu. Diese wandernden Gruppen waren meist relativ klein, waren sehr inhomogen zusammengesetzt und in ständiger Wandlung begriffen. Meist waren es Flüchtlinge, die sich durch kriegerische Ereignisse oder erschöpfte und zu geringe Ressourcen zum Aufbruch gezwungen sahen und denen sich Abenteurer und Eroberer anschlossen: Krieger und Bauern, Frauen und Kinder, dazu Wagen und Vieh.

Ehrgeizige Wanderkönige

Als Flüchtlinge, Hilfstruppen und Verbündete wurden sie hereingelassen und angesiedelt, bis sie sich schließlich verselbständigten und ihre eigenen Territorien und Herrschaftsbereiche begründeten. Zusammengehalten und geführt wurden sie von ehrgeizigen Wanderkönigen, von Schleppern im modernen Wortsinn, die darauf aus waren, zu plündern, Beute zu machen oder Land zu nehmen.

Die Römer hatten in ihrem etwa tausend Jahre beständigen Weltreich rund um das Mittelmeer einen globalen Wirtschaftsraum geschaffen, in dem Menschen, Waren und Informationen frei zirkulierten. Nicht nur die schiere Not ließ die Völker im Norden und Osten des Reiches ausschwärmen. Sie träumten auch vom Glanz und den Verlockungen des Imperiums. Es lockten die süßen Früchte des Südens, der Wein, die Datteln und Oliven, die Annehmlichkeiten in den Villen und Bädern, die Spiele und Vergnügungen in den Städten.

Der "Limes", das riesige Grenzsicherungssystem mit seinen Mauern und Kastellen, das die Römer entlang von Rhein und Donau und auch in England gegen die wilden Germanen, Pikten und Schotten aufgerichtet hatten, nützte nicht viel. Er wurde überrannt und umgangen. Der Umgang mit den zuströmenden Migranten und Flüchtlingen war genauso konfus wie heute. Das eine Mal wurden sie aufgenommen und angesiedelt, ja sogar aktiv hereingeholt, dann wieder mit voller Brutalität bekämpft und ausgesperrt, vertrieben und vernichtet.

Das Weströmische Reich ist in den Stürmen der Hunnen, Goten, Vandalen, Langobarden etc. untergegangen. Das Oströmische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel konnte dank seiner viel höheren Mauern tausend Jahre länger standhalten. 1453 ist es auch untergegangen, und mit ihm die griechisch-oströmische Zivilisation im Raum der heutigen Türkei.

Was sich in der Völkerwanderung aus den kalten, unwirtlichen und gefährlichen Weiten des Nordens und Ostens in den sonnigen und hoch entwickelten Süden ergoss, führt heute von einem immer ärmer und kriegerischer werdenden Süden und Südosten in den reichen Norden. Heute lockt nicht der Süden mit seiner Sonne und seiner uralten Zivilisation, sondern der Norden mit seinen Arbeitsplätzen, Sozialsystemen und Konsummöglichkeiten. Heute ist Europa eine Friedensinsel und der orientalisch-nordafrikanische Raum von Bürgerkriegen und sozialen Unruhen geplagt. Doch die Dynamik ist eine andere. Was sich damals über mehrere Jahrhunderte hinweg abspielte, bricht gegenwärtig innerhalb weniger Jahre herein. Dank Facebook, Handy, Internet und Fernsehen kennen sie die Standards des Westens und erwarten sich die Erlösung aus ihrem von Krieg, religiöser und politischer Gewalt, Dürre und Hunger verursachten Elend.

Grenzsperren lösen sich auf

Allein in diesem Jahr sind bis zu 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. In Deutschland dürften angesichts der sich mit zunehmender Geschwindigkeit auflösenden Grenzsperren heuer fast eine Million Flüchtlinge zu erwarten sein, in Österreich, wenn der Trend anhält, bis zu 100.000 – und das ist erst der Anfang. Man muss damit rechnen, dass dieser starke Zustrom an Flüchtlingen unter sich wenig ändernden politischen Rahmenbedingungen in den nächsten Jahren weiter anhalten oder sogar noch zunehmen wird.

Eine derart große Zahl von Flüchtlingen ist für ein reiches Land eine größere Herausforderung als für ein armes Land. Es kann sich ja nicht darauf beschränken, den Flüchtlingen mit Notquartieren am absoluten Existenzminimum auszuhelfen. Es muss die Hilfesuchenden an seine eigenen Standards heranführen, um keine gefährlichen Ghettos entstehen zu lassen. Darum stehen auch alle Vergleiche mit der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit, als man auch ähnlich viele Flüchtlinge und Asylsuchende zu bewältigen hatte, auf tönernen Füßen.

Man kann mit edelmütiger Willkommenskultur oder populistischem Ressentiment reagieren. Bei den kommunalen und staatlichen Einrichtungen trifft das engagierte subjektive Bemühen der beteiligten Helfer auf die objektive Überforderung der Ressourcen und der politischen Handlungsträger. Das alles entspricht noch dem Bekannten und Erwartbaren. Doch es ist etwas eingetreten, das es 1945, 1956, 1968 oder 1989 noch nicht gegeben hat. Das 1946 eingeführte Menschenrecht auf Asyl wurde unter dem Eindruck der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen geschaffen. Seither ist die Weltbevölkerung von 2,4 auf 7,4 Milliarden gewachsen. Und die Zahl der Regionen wird immer mehr, wo viele Jugendliche für sich keine Chancen mehr sehen. Dann kann eine relativ geringe Zahl zorniger junger Männer durch Terror und Bürgerkrieg gewissermaßen über Nacht ungezählte Millionen zu Bewohnern von Kriegsgebieten machen, die nach europäischen Asylstandards bei ihrer Flucht nicht zurückgeschickt werden dürfen. Einige Tausend tötende Jünglinge in den Krisenländern bringen Millionen ihrer Mitbürger unter den Schutz des Asylrechts in Europa. Das ist historisch neu.

Wir beobachten in der westlichen Welt zwei Umgangsweisen mit diesen Flüchtlingen. Wir haben eine Gruppe von Ländern, die USA und Kanada, Australien und Neuseeland, Großbritannien und auch eine Reihe nordosteuropäischer Staaten, die ihre Grenzen militärisch sichern und nur Qualifizierte hereinlassen wollen. Sie brauchen Einwanderer, schauen aber gewissermaßen erbarmungslos nur auf Könnerschaft.

Die Mittel- und Nordeuropäer brauchen ebenfalls Zuwanderer. Sie fühlen sich aber aus eigener Erfahrung einer starken Asyltradition verpflichtet. Sie wollen Migranten aufnehmen, nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Hilfsmaßnahme. Die einen nehmen nur wenige Ausgewählte, im Vertrauen, damit wirtschaftlich vorne zu bleiben. Die anderen halten die Grenzen für jeden offen, der Hilfe braucht. Sie haben keine Angst um ihre Wettbewerbsfähigkeit oder folgen anderen Werten. Deutschland, Österreich und Schweden sind hier Wortführer.

Wer von beiden glücklicher wird, wissen wir noch nicht. Wir werden erst in Jahrzehnten sehen, wer weiser gewählt hat.

Grafik: Völkerwanderung

Weitere Inhalte:

Die Völkerwanderung

375 - Beginn: Tod Kaiser Valentinians I. Die Hunnen unterwerfen die Alanen und Goten.

376 - Flucht der Donaugoten vor den Hunnen und Aufnahme im römischen Reich. Bald darauf erheben sich die Goten gegen die Römer.

378 - Schlacht von Adrianopel (Edirne). Kaiser Valens und mit ihm ein Großteil der oströmischen Armee fallen im Kampf gegen die Westgoten.

382 - Kaiser Theodosius I. siedelt größere Gotenverbände an der unteren Donau an.

406/07 - Limes: Zeitweiliger Zusammenbruch des römischen Limes an der Rheingrenze. Vandalen, Sueben und Alanen ziehen plündernd durch Gallien.

410 - Eroberung Roms durch die Westgoten unter Alarich I.

418 - Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien.

429 - Vandalen setzen nach Afrika über.

436 - Vernichtung des Burgunderreichs durch den weströmischen Heermeister Aëtius.

451 - Hunnen werden in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern besiegt. Nach Attilas Tod 453 bricht das Hunnenreich auseinander.

455 - Eroberung und Plünderung Roms durch die Vandalen.

466 - Westgotenkönig Eurich erobert den Großteil Spaniens sowie den Südwesten Frankreichs.

476 - Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus durch den germanischen Heerführer Odoaker.

486/87 - Frankenreich unter Chlodwig I. nimmt Gestalt an.

488 - Großteil der romanisch sprechenden Bevölkerung an der ober- und niederösterreichischen Donau wird nach Italien ausgesiedelt.

489 - Ostgote Theoderich fällt in Italien ein und errichtet ein eigenes Königreich.

535-552 - Gotenkrieg in Italien. Kaiser Justinian strebt die Rückeroberung weiter Teile des ehemaligen Westreichs an.

568 - Einfall der Langobarden in Oberitalien. Ende der eigentlichen Völkerwanderungszeit.

 

Der Exodus
3,9 Millionen Menschen kehrten Syrien 2014 den Rücken, 7,6 Millionen flüchteten innerhalb der Staatsgrenzen.

 

60 Mio. Menschen waren im Jahr 2014 nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen weltweit auf der Flucht.

3,9 Mio. Flüchtlinge stammen aus Syrien. Dahinter folgen Afghanistan (2,59 Millionen), Somalia (1,11 Millionen), Sudan (0,65 Millionen) und Südsudan (0,62 Millionen).

1,6 Mio. Flüchtlinge wurden 2014 von der Türkei aufgenommen, 1,51 Millionen von Pakistan, 1,15 Millionen vom Libanon und 0,89 Millionen vom Irak.