Der Tag, der an Moskaus Siegerehre kratzt

Von Von Stefan Scholl   25.August 2009

Am 23. August 1939 besiegelten NS-Deutschland und die Sowjetunion den Nichtangriffspakt mit geheimem Zusatzprotokoll, in dem Nazideutschland der größere Teil Polens überlassen wurde und Stalin dafür die polnisch verwalteten Regionen Weißrusslands und der Ukraine beanspruchte, aber auch Estland, Lettland und Finnland. Acht Tage später griff die Wehrmacht Polen an. Die Rote Armee aber kassierte die baltischen Staaten und die übrige mit Berlin vereinbarte Beute.

Heftige Debatten

Ein Jubiläum, das Russlands halbstaatliche Öffentlichkeit in Harnisch bringt. Zumal sich das Europaparlament vergangenes Jahr dafür aussprach, den 23. August zum Gedenktag der Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus zu erklären. „Es wird vorgeschlagen, den Totalitarismus Hitlers und jenen Stalins gemeinsam zu verurteilen und gleichzusetzen“, ärgert sich der Politologe Sergej Karaganow in der Regierungszeitung Russkaja Gaseta.

„Solche Beschlüsse sind nur der Gipfel des Eisberges aus Publikationen und Reden, die meist aus Polen und den baltischen Ländern stammen und von gewissen anderen europäischen Ländern sanft unterstützt werden.“

Das politische Russland fühlt sich von Europa ideologisch belagert. Man unterstellt vor allem den polnischen, ukrainischen und baltischen Nachbarn, sie wollten Moskau mit einer antisowjetischen Kampagne im Nachhinein den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Hitlerdeutschland streitig machen.

Moskaus Medien schießen heftig zurück: „Als Erste haben sich die Balten mit Hitler geeinigt. Erst danach Molotow“, zitiert die Massenzeitung Komsomolskaja Prawda den Spruch auf einem Kühlschrankmagneten, der in Estland angeblich von Neonazis vertrieben wird.

Polen schuld am Krieg?

Auf der Website des russischen Verteidigungsministeriums gab im Juni ein Militärhistoriker Polen die Kriegsschuld: Warschau habe Hitlers „gemäßigte“ Forderungen nach der Abtretung Danzigs und einer Autobahnverbindung nach Ostpreußen stur abgelehnt. Selbst den Schweden unterstellt Moskau Revanchegelüste für die Niederlage bei Poltawa vor 300 Jahren. „Die ,östliche Partnerschaft’ der EU, deren Hauptinitiator Schweden ist, erinnert schmerzhaft an die Wiederherstellung der alten schwedischen Dominanzzone“, schimpft Karaganow.

Es gibt durchaus Gründe für so aufgewühlte Reaktionen. So startete etwa der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko einen Propagandafeldzug, um die Hungersnot unter Stalin, der Millionen ukrainische, aber auch russische Bauern zum Opfer fielen, als russischen Genozid an den Ukrainern zu verkaufen.

Kriegsgewinn eint

Aber wenn Moskauer Parlamentarier sowjetische Schulbuchweisheiten nachplappern, der Hitler-Stalin-Pakt sei notwendig gewesen, um den Ostdrang der Nazis zeitweise zu stoppen, verteidigen sie vor allem das Allerheiligste, was Russland von der UdSSR geerbt hat: den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“, einen opferreichen und gerechten Sieg.

Er wird mit alten Sowjetfilmen und neuen TV-Serien, mit Artikeln und Reden gefeiert, dient mangels neuer Visionen längst als Nationalidee. „Die Hauptklammer, die die russische Gesellschaft zusammenhält, ist die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, erklärt der Historiker Alexander Djukow. „Wenn sich diese Klammer löst, beginnt unsere Gesellschaft auseinanderzufallen.“ Die peinliche Wahrheit, dass der Kreml 1939 mit Hitler gemeinsame Sache gemacht hat, kann Russland offenbar noch nicht verkraften.