Dünn ist die Decke der Humanität
Franzobels "Floß der Medusa" ist ein historischer Roman der Sonderklasse.
Am 8. Juli des Jahres 1816 entdeckte das französische Schiff Argus vor der afrikanischen Westküste ein etwa zwanzig Meter langes Floß und rettete fünfzehn Männer, die dem Tod schon näher waren als dem Leben. Fast zwei Wochen hatten sie – ausgesetzt von Kapitän, Führungsmannschaft und Passagieren der gekenterten "Medusa" – auf einem mehr schlecht als recht zusammengenagelten Holzhaufen ausgeharrt. Sie waren die letzten Überlebenden von insgesamt 147 Menschen. Was sich in diesen zwei Horrorwochen auf dem "Floß der Medusa" ereignet hat oder haben könnte, davon handelt Franzobels neuer, lesenswerter Roman.
An Grauenhaftem bleibt dem Leser wenig erspart. Dünn ist die Decke von Humanität und Zivilisation, wenn es nur noch um das nackte Überleben geht. Die Sonntagsreden von Nächstenliebe und Solidarität lösen sich in nichts auf. Wenn das Boot voll ist und zu kentern droht, werden alle, die zu schwach oder zu spät gekommen sind, gnadenlos hinausgetreten, und wenn der Hunger brennt bis in die Därme hinein, ist auch Menschenfleisch nichts anderes als ein Nahrungsmittel.
Für die Schrecken solch einer Grenzsituation die angemessene Erzählsprache zu finden, ist ein poetischer Kraftakt, den Franzobel mit bewundernswerter Souveränität meistert. Seinen Hang zum Skurrilen, Grotesken und stilistisch Verspielten hat er für dieses Buch zugunsten einer zwar bildstarken, aber grundsätzlich realistischen Schreibweise zurückgefahren. Und auch vieles andere ist zu loben an diesem außergewöhnlichen Roman! Zum Beispiel die Figurenzeichnung: Ein keineswegs bösartiger, aber inkompetenter und eitler Kapitän folgt lieber den hirnrissigen Ratschlägen eines royalistischen Gesinnungsfreundes und Hochstaplers als denen erfahrener republikanischer Offiziere. Der krankhaft ehrgeizige und in seiner Karrierefixierung skrupellose Gouverneur des Senegal würde Menschen opfern, damit er seine Guillotine mit dem Rettungsboot sicher nach Senegal bringen kann. An Bösartigkeit und Grausamkeit mangelt es auch vor der Katastrophe nicht, die Sympathieträger hingegen sind rar und gehören nur sehr selten zu den Gewinnern.
1816 ist auch im historischen Kontext ein bedeutsames Jahr. Mit Napoleons Niederlage bei Waterloo (1815) und seiner Verbannung nach St. Helena sind die letzten Ausläufer der Revolutionszeit versiegt. In Wien tanzt der Kongress der Neoabsolutisten nach Metternichs Pfeife. Aber Flämmchen der Aufklärung glimmen dort und da unauslöschlich weiter. Der Schiffsarzt Savigny repräsentiert den naturwissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus in seiner humanistischen Variante, der Geologe Corréard den atheistischen Skeptizismus. Letztlich stehen beide fassungslos vor den Ereignissen, deren Betroffene und Zeugen sie geworden sind. Und die Mitwelt? Die möchte ihren schonungslosen, erschütternden Bericht am liebsten ignorieren, verdrängen, vergessen. Aufklärung ist bisweilen eine Belästigung.
Franzobel: "Floß der Medusa", Zsolnay, 590 Seiten, 26,80 Euro
Veranstaltungstipp: Franzobel präsentiert "Floß der Medusa" am Dienstag, 7. Februar, um 19.30 im Stifterhaus Linz. Einführung: Andreas Puff-Trojan