Wie Heimatdichtung zur Weltliteratur veredelt wurde

Von Christian Schacherreiter   13.September 2017

Für die älteren Leser, die im letzten Jahrtausend noch ein richtiges Gymnasium besucht haben, gehört Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter" zum guten, alten Literaturkanon – und zwar zu jenem der Unterstufe. Der Begriff "Lesekompetenz" war damals zwar noch unbekannt. Dafür konnten wir lesen, und zwar ganz ohne Tablet.

Ich erinnere mich heute noch an das Grauen des Zwölfjährigen, der seine Finger in das Reclam-Bändchen krallt, als er liest, wie sich der Deichgraf Hauke Haien samt seinem Schimmel in die Meeresfluten stürzt, verzweifelt über den Verlust seiner Familie und erzürnt über die Dummheit und den Aberglauben seiner Umgebung. "Der Schimmelreiter" ist neben "Immensee" (1849) und "Pole Poppenspäler" (1875) Storms bekanntestes Werk. Aber der Mann aus Friesland hat noch weitaus mehr Geglücktes zu bieten, obwohl sein Leben alles andere als eine Abfolge von Glücksfällen war und auch sein Werk einen eher melancholischen Grundton aufweist.

Schwierige Beziehungen

Theodor Storm wurde am 14. September 1817 in Husum als Sohn eines Justizrats geboren und setzte die berufliche Familientradition fort. Nach dem Abschluss seines Jura-Studiums ließ er sich in Husum als Advokat nieder. Eher schwierig verliefen seine Liebesbeziehungen. Die um zehn Jahre jüngere Bertha von Buchan erwiderte seine Liebe nicht. Er heiratete 1846 seine Cousine Constanze, was ihn aber nicht davon abhielt, nachhaltig für eine gewisse Dorothea Jensen zu schwärmen – auch in Liebesgedichten. Dennoch bekam Storm mit Constanze sechs Kinder, bei der Geburt des siebenten starb die Mutter. 1866, ein Jahr nach Constanzes Tod, heiratete Storm Dorothea. Zu diesem Zeitpunkt lebte Storm schon wieder in Husum, das er für zwölf Jahre verlassen hatte, weil er sich im deutsch-dänischen Konflikt mit seiner antidänisch-demokratischen Haltung mächtige Feinde gemacht hatte.

Zu vielfältig für nur einen Stil

Nach der Annexion Schleswig-Holsteins durch Preußen (1867) wurde Theodor Storm Amtsrichter in Husum und blieb es bis zu seiner Pensionierung 1880. In diesen Husumer Jahren entstanden mehr als zwanzig Novellen, die bekannteste ist "Aquis submersus". Seine letzten, durchwegs produktiven Lebensjahre verbrachte er in Hademarschen, wo er 1888 an Magenkrebs starb.

Theodor Storm ist vor allem als Erzähler des bürgerlichen Realismus zum Klassiker geworden. Seine Novellen sind aber thematisch und stilistisch zu vielfältig, um sie einem einzigen Epochenstil zuzuordnen. In seiner Selbsteinschätzung gab der Dichter ohnedies seiner Lyrik den Vorzug gegenüber seiner Epik. Er meinte sogar, dass seine Novellen erst aus den Kompositionsstrukturen seiner Gedichte hervorgegangen seien. Storm ging es im Gedicht und in der Erzählung darum, am konkreten, individuellen Phänomen das Allgemeinmenschliche zu veranschaulichen. Seine Stoffe bezog er meist aus seiner näheren Heimat. Ihn deswegen als "Heimatdichter" von regionaler Bedeutung abzuwerten, wäre aber ungerecht.