"Schicksale teilen sich – und immer spielt einer die Rolle des anderen weiter"

Von Peter Grubmüller   05.Dezember 2016

Hier ist jede Figur geschunden, verwundet, verwahrlost. Und hier regiert das uneingeschränkte Gesetz des Stärkeren. Bei der Lektüre des Stücks "Niemand" könnten Zweifel aufkommen, ob es sich tatsächlich um Ödön von Horváths lange verschollenes und von Geheimnissen umwölkt aufgetauchtes Frühwerk von 1924 handelt. Nur wer weiß schon, wie brachial der später subtilere Operateur am offenen Kleinbürger-Herzen der Zwischenkriegszeit im Alter von 23 Jahren geschrieben hat? Nach dem Theater in der Josefstadt ist nun das Landestheater Linz die zweite Bühne, die diese Tragödie zur Aufführung bringen darf. Der dramatische Glücksfall hatte am 3. Dezember in den Kammerspielen in der Inszenierung von Peter Wittenberg Premiere.

Der junge Ödön von Horváth setzte die sieben Bilder des Stücks ins Stiegenhaus eines Mietshauses. Florian Parbs hat es als Stahlgerüst auf die Bühne gestellt, das sich zur metaphorisch aufladbaren Wippe verwandelt, auf der die eiskalten Verhältnisse von notlüsternen Huren, verzweifelten Jungfrauen, Ausbeutern und Übersehenen gewogen werden. Gleichsam ist das Gestell Aufstiegshilfe und Rutsche ins Bodenlose. Die Kostüme von Alexandra Pitz stützen den düsteren Grundton.

Aus der Not, nicht aus Liebe

Im Parterre schenkt der fette Wirt mit gedemütigten Kellnerinnen Bier aus – und die Prostituierte Gilda ihren Freiern ein. Im Stock darüber haust das Ehepaar Meyer, in der Mansarde lebt der bettelarme Geiger Klein, und ganz oben thront Hausbesitzer, Pfandleiher und Blutsauger Fürchtegott Lehmann. Auf zwei Krücken schleppt sich der Krüppel dahin. Seine Wohnung kann er wegen seiner Behinderung nicht verlassen, deshalb regiert er das Haus mit harter Hand. Vor lauter Armut will die junge Ursula auf den Strich gehen. Lehmann verköstigt sie, also wird sie seine Frau – aus der Not, nicht aus Liebe.

Christian Taubenheim entwickelt als dieser fatale, jammernde Fürchtegott auf differenzierte Weise einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.

Es sieht so aus, als würde sich Lehmann zum besseren Menschen umkehren, er bezahlt etwa die Schulden einer Kellnerin, die sich beim Kassieren aus Liebe verrechnet hat. Trotzdem verliert die Kellnerin den Job, und es kommt eine neue – um Stellvertreter wird das Grauen nie verlegen. So hat auch der Zuhälter Wladimir, der wegen eines aus Gold vermuteten Blechrings zum Mörder wird, bald einen Nachfolger. "Nicht nur Namen, auch Schicksale teilen sich, verdoppeln sich, vermehren sich – und immer spielt einer die Rolle des anderen weiter", wird Lehmann im wichtigsten Dialog zu seinem zurückgekehrten Bruder Kasper sagen. Jener Kasper, den die Eltern mittellos weggeschickt und die aus Mitleid alles dem behinderten Fürchtegott vermacht haben.

Neben Taubenheim sind Alexander Hetterle (Kasper), Gunda Schanderer (Gilda), Theresia Palfi (Ursula) und Katharina Hofmann (Hausmeisterin) die maßgeblichen Säulen dieser bedeutenden Ensemble-Leistung. Peter Wittenberg hat es geschafft, das Pathos bis auf wenige Momente zu vertreiben. Zwei intensive, schauspielerisch glänzende Stunden. Erwarten Sie alles, bloß keine Erlösung.

Schauspiel: "Niemand" von Ödön von Horváth, Regie: Peter Wittenberg, Premiere: 3. 12., Kammerspiele Linz, Termine: 10., 13., 17., 20. 12.; 13., 18., 31. 1. 2017. Karten, Tel.: 0800 218 000. www.landestheater-linz.at

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Hintergrund: Ödön von Horváths „Niemand“