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Psychopath? Verbrecher? Philosoph?

Von Christian Schacherreiter, 29. November 2014, 00:04 Uhr
Psychopath? Verbrecher? Philosoph?
De-Sade-Büste nahe der Burgruine in Lacoste (Provence), im 18. Jahrhundert Wohnsitz des Donatien Alphonse François, Marquis de Sade. Bild: dpa

Ein Leben zwischen Aufklärung, Anmaßung und Perversion – eine Rückschau zum 200. Todestag des Marquis de Sade von Christian Schacherreiter.

Sexuelle Tabus sind gewiss nicht das Hauptmerkmal unserer Zeit. Wir sind einiges gewöhnt und nehmen für uns in Anspruch, wenigstens in Sachen Sex in einer aufgeklärten Epoche der Toleranz zu leben. Wie Charlotte Roches Buch "Feuchtgebiete" gezeigt hat, muss man heutzutage schon alles auspacken, wenn man mit Körperöffnungen noch auffallen will. Dass ausgerechnet ein Marquis aus dem 18. Jahrhundert heute noch zu den Ärgernissen zählt, ist daher ungewöhnlich.

Am 2. Dezember jährt sich der Todestag des Marquis de Sade zum 200. Mal. Der berüchtigte französische Libertin und Nihilist starb am 2. Dezember 1814 in der Irrenanstalt von Charenton/Paris. Damit ging ein Leben zu Ende, das einen Skandal nach dem anderen ausgelöst hatte – und das auch heute noch irritiert. Dabei waren die Adeligen des Ancien Régime wahrlich keine Kinder von Traurigkeit. Sexuelle Freizügigkeit gehörte zum lustigen Adelsleben durchaus dazu, aber man musste sich vordergründig an gewisse Konventionen halten. Wenn praktizierte Lust und öffentliche Moral weit auseinanderliegen, folgen Verlogenheit und Scheinheiligkeit auf dem Fuße. Genau damit war Donatien Alphonse François, Marquis de Sade, der 1740 als Sohn eines finanziell angeschlagenen Aristokraten geboren wurde, schon in früher Jugend konfrontiert.

Zum Lehrbeispiel in Sachen Doppelmoral wurde ein Onkel, der das geistliche Amt und ein ausschweifendes Sexualleben zynisch miteinander vereinbarte. Die Überzeugung, dass Tugend und Verzicht nichts bringen, wird in den Werken des Marquis de Sade leitmotivisch wiederkehren. So zum Beispiel im Doppelroman "Die Neue Justine oder Das Unglück der Tugend. Die Geschichte ihrer Schwester Juliette" (1797). Sade konstruiert darin die gegensätzlichen Lebensmodelle zweier Schwestern.

Juliette prostituiert sich und scheut vor keinem Verbrechen zurück, wenn es um ihren Vorteil geht. Damit hat sie gesellschaftlichen Erfolg – im Unterschied zu ihrer Schwester Justine, die unter dem Unglück ihrer Tugend ständig zu leiden hat. Demütigung, Misshandlung, Vergewaltigung und Folter sind die Folgen der Tugend, denn Justine wird ständig zum Opfer von Menschen, die nur ihrem Ego verpflichtet sind.

Dieser skrupellose Egoismus sei die wahre Natur des Menschen, davon war Marquis de Sade überzeugt, und er führte sein Leben so, dass es sein Menschenbild bestätigen sollte. Schon als Kind, dem jeder Wunsch erfüllt wurde, galt der kleine Sade als jähzornig und gewalttätig, er selbst bezeichnete sich später einmal als "hochmütig und despotisch". Als Zehnjähriger trat er in das Jesuitenkolleg Louis-de-Grand ein, eine Pariser Eliteschule, in der die Geißelung und Auspeitschung der Zöglinge, wie in vielen Internatsschulen dieser Zeit, zum "pädagogischen" Programm gehörte. Diese Erfahrung manifestierte sich möglicherweise im Hang zu Sexualpraktiken, die man mit begrifflicher Bezugnahme auf den Marquis als "Sadismus" bezeichnet.

Immer wieder beschrieb Marquis de Sade in seinen Werken Szenen, in denen Herrschaft, Grausamkeit und Lust eine Einheit bilden. Die extremsten Gewaltphantasien dieser Art findet man im Werk "Die 120 Tage von Sodom", das Marquis de Sade während seiner Haft in der Bastille schrieb.

Vier Männer ohne jede Moral misshandeln, vergewaltigen, foltern und töten Frauen und Knaben, die sie auf einem Schloss gefangen halten. Dieses Werk, das man wohl kaum ohne Brechreiz lesen kann, wurde im 20. Jahrhundert als frühes Modell eines totalitären Staates interpretiert. Pier Paolo Pasolini adaptierte die Handlung und verlegte sie in die Zeit des italienischen Faschismus. Der 1975 erschienene Film wurde zum handfesten Skandal. Was Marquis de Sade in "Die 120 Tage von Sodom" erzählt, entspringt in diesem Extrem zweifellos seiner Phantasie, aber in gemäßigterer Form lebte er seine Gewaltphantasien aus. Schwer begreiflich ist, dass Sades Ehefrau Renée-Pélagie, mit der er drei Kinder hatte, bis in die neunziger Jahre zu ihm stand, obwohl er aus seinen Abgründen kein Geheimnis machte.

Feindin Schwiegermutter

Hauptgegnerin war nicht seine Frau, sondern seine Schwiegermutter. Seine Inhaftierung verdankt er vor allem ihrer Feindschaft. Im Zuge der Französischen Revolution wurde Marquis de Sade aus der Kerkerhaft entlassen, aber ein exzentrischer Außenseiter des Establishments ist nicht automatisch ein Freund der Revolution. "Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!" – damit konnte der deklarierte Nihilist und Atheist nichts anfangen. Der radikale Tugendflügel der Revolution sorgte schon bald dafür, dass gegen Marquis de Sade das Todesurteil ausgesprochen wurde.

Napoleon beurteilte die Sache nach dem Zusammenbruch der Jakobinerdiktatur anders. Auch er war der Meinung, dass man den Marquis aus dem Verkehr ziehen müsse (im Doppelsinn der Metapher), allerdings hielt er die Irrenanstalt für den passenden Ort. In Charenton verbrachte Marquis de Sade seine letzten dreizehn Jahre.

Bücher und Ausstellung

Volker Reinhardt, Historiker, legt mit seinem Buch „De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ eine fundierte und seriöse Biografie des südfranzösischen Adeligen vor. Er nimmt die Leser mit auf eine spannende Forschungsreise in die Abgründe des menschlichen Seins, wohl gestützt auf zahlreiche Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Damit wird er der Komplexität der Person de Sade durchaus gerecht. Das fesselnde Buch beleuchtet darüber hinaus den Wandel der französischen Aristokratie plastisch und verständlich. Im Schlusskapitel zeigt Reinhardt, dass de Sade als Schlüsselfigur der Moderne gelten muss, die von der Psychoanalyse über die Kritische Theorie bis zum Existenzialismus viel beeinflusste (C. H. Beck Verlag, 464 Seiten, 27,70 Euro).

Das Orsay-Museum in Paris zeigt bis 25. Jänner eine Ausstellung von 500 Werken, in deren Mittelpunkt de Sade als Wegbegreiter eines neuen Bildes der Lust in der Malerei steht. Unter dem Titel „De Sade. Attaquer le soleil“ („De Sade. Die Sonne atackieren“) sind Werke zu sehen von Goya, Ingres, Rodin, Picasso, Max Ernst oder Hans Bellmer. Die Werkschau will betonen, dass dank de Sade die bildhafte Darstellung von Begierde und Gewalt von einschränkenden moralischen Gesetzen befreit wurde.

Jaques Chessex, französisch-schweizerischer Schriftsteller, verstarb 2009, posthum ist sein Roman „Der Schädel des Marquis de Sade“ erschienen. Übersetzt hat ihn Stefan Zweifel, der auch schon die „Justine“ ins Deutsche übertragen hat.
Ein Strang des Romans spielt im Jahr 1814, als der 74-jährigen Schriftsteller de Sade in der geschlossenen Abteilung einer Pariser Irrenanstalt sitzt. Doch weder Inhaftierung noch Alter hindern ihn daran, seine Welt weiterhin in Empörung und Schrecken zu versetzen. Chessex’ Text zeichnet sich sowohl durch Witz als auch durch die korrespondierende Derbheit aus und erzählt solide die letzten Lebensmonate des Marquis und die kuriose Reise seines Schädels durch die Jahrhunderte (Verlag Nagel und Kimche, 16,30 Euro).

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1  Kommentar
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bennevis (98 Kommentare)
am 29.11.2014 23:54

...weichen nicht nur bei MDS voneinander ab...

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