Roman: In Diktaturen ist der Kollaborateur König
"Als die Tauben verschwanden", der neue Roman der Finnin Sofi Oksanen, erzählt von Wendehals-Bestien in Krisenzeiten.
Sofi Oksanen stilisiert sich selbst als Kunstfigur. Die 1977 geborene Tochter einer Estin und eines Finnen fällt bei Buchmessen dadurch auf, dass sie in finsterem Gothic-Look selbstvergessen die Gänge abschreitet – so, als sei sie nicht von dieser Welt und müsse sich erst zurechtfinden. 2010 hat sie sich mit ihrem dritten Roman "Fegefeuer" in die internationale Literaturszene eingetragen, für dieses Meisterwerk bekam sie den Europäischen Literaturpreis. Über ihren aktuellen Band "Als die Tauben verschwanden" lobhudelt der Verlag, er sei die "internationale literarische Sensation des Jahres" – das ist dick aufgetragen, das Buch ist bloß sehr gut.
Oksanen legt wie in "Fegefeuer" estnische Geschichte und die Psychologie fortwährender Fremdbestimmung frei, aber diesmal setzt sie vor der Erstickung des Landes durch die sowjetische Umklammerung an.
Der Ich-Erzähler Roland kämpft für die Freiheit Estlands. Als die Nazis 1941 die Rote Armee verscheuchen und die Kontrolle übernehmen, engagiert sich Roland im Untergrund. Seine Verlobte Rosalie soll sich während seiner Abwesenheit umgebracht haben, sie wurde still und heimlich außerhalb des Friedhofs begraben. Roland zweifelt an den Selbstmord-Gerüchten, stattdessen vermutet er, ein Nazi könnte sie umgebracht haben. Sein Cousin Edgar ist eine Art Halbbruder für Roland – und die eigentliche zentrale Figur. Er plumpst dümmlich in die Erzählung, entpuppt sich jedoch als widerlich feiger Wendehals – in einem System, das Kollaborateure forciert. Er wechselt je nach Machtverhältnissen die Seiten, leider übertreibt es Oksanen mit seiner Impotenz und Homosexualität.
Edgar fälscht seine Papiere, er heiratet Juudit, weil ein Mann eine Frau hat, wenn er Karriere machen will. Als Juudit eine Affäre mit einem SS-Hauptsturmführer beginnt, freut er sich. Sie soll ihn aushorchen.
Oksanen ziseliert ihre Figuren und ob ihrer präzisen, unaufgeregten Sprache wird es nicht als Effekt verdächtig, wenn sie den Schrecken des Krieges mit einem Soldaten ausbreitet, der dem bereits toten Feind den Schädel zertrümmert; oder mit einem Nazi, der bei der Hinrichtung eines KZ-Häftlings eine Erektion bekommt.
Als Estland in den 60er-Jahren Teil der Sowjetunion ist, etabliert sich Edgar als Propaganda-Autor. Wer ihn noch aus Nazi-Spezi kennt, den patzt er als Kriegsverbrecher an – und Menschen wie Edgar bremsen beim Denunzieren auch vor der eigenen Verwandtschaft nicht ein.
Sofi Oksanen: "Als die Tauben verschwanden", Roman, Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten, 20,60 Euro.
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