Im TV-Bereich steht die Entflechtung der Herrschaftsverhältnisse bevor

Von Julia Evers   20.Mai 2017

"Früher habe ich ganz normal ferngesehen. Aber seitdem ich Netflix habe, schaue ich nur noch das. Ich finde es einfach sehr positiv, dass ich dort keine Werbungen habe und immer sehen kann, was ich will und wann ich will." So wie die 21-jährige Madeleine Mayr denken zunehmend mehr Menschen. Das klassische Fernsehen gerät unter Druck, seitdem Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon Prime hierzulande erhältlich sind.

Nicht nur zeitliche Unabhängigkeit bringen diese Dienste mit sich, sondern auch jede Menge hochwertige Eigenproduktionen. Die Qualität der Serien und Filme profitiert von den neuen Rahmenbedingungen. Anstatt ein möglichst funktionierendes Umfeld für Waschmittelwerbung zu schaffen, können sich die Schöpfer auf das zielgruppengerechte Erzählen konzentrieren. Ungewöhnliche Themen und Erzählstränge, die es im herkömmlichen öffentlich-rechtlichen oder werbefinanzierten Fernsehen nie auf den Bildschirm geschafft hätten, werden von den Kunden begeistert gestreamt – meist alle Folgen hintereinander. "Binge-watching" nennt sich dieses Konsumieren von ganzen Staffeln in einem durch.

In Hollywood reißen sich mittlerweile nicht nur die ganz großen Schauspieler und Regisseure darum, bei solchen Projekten mit dabei zu sein, auch bei den Preisverleihungen der wichtigsten Fernsehpreise wie Emmys oder Golden Globes räumen die Produktionen der Streaming-Dienste ab.

Sogar beim renommierten Filmfestival in Cannes, das diese Woche eröffnet wurde, sind zwei Netflix-Produktionen im Wettbewerb. Sie werden zwar teilweise in den USA und Ankündigungen zufolge auch in wenigen anderen Ländern in Kinos starten. Netflix plant aber, die Filme vor allem beim eigenen Streamingdienst zu zeigen – das wurde bereits heftig kritisiert.

Sportrechte von Großveranstaltungen verschwinden immer mehr aus dem öffentlich-rechtlichen und werbefinanzierten Fernsehen, weil sie zunehmend von Streaming-Anbietern und Pay-TV-Sendern aufgekauft werden. Auch im Info-Bereich gibt das TV Themen seltener vor, es gilt immer öfter auf das, was in Social-Media-Kanälen diskutiert wird, zu reagieren und diese Aspekte zu vertiefen. "Der politische Diskurs wird stärker durch das bestimmt, was auf Twitter und Facebook diskutiert wird", sagt Kommunikationswissenschafter Thomas Bauer von der Universität Wien: "Es kommt im TV-Bereich zu einer Entflechtung der Herrschaftsverhältnisse, die bis jetzt durch Technologie, Geld, Organisation und dahinter liegenden Institutionen vorgegeben waren."

Die Zukunft hat begonnen

Neben der technologischen Ebene, die er künftig zunehmend auf die mobile, und auf die interaktive Ebene verlagert sieht, stehe auch im journalistischen Bereich ein Rollenwechsel an. "Der Konsument wird zum Produzenten", sagt Bauer. Menschen, die Videos hochladen und Inhalte produzieren, werden mehr und ändern die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit der Kommunikation. Künftig gilt: Das Smartphone wird noch mehr in Gebrauch sein, Nachrichten werden zwischendurch und unterwegs konsumiert, Serien und Filme, wann immer man will auf Abruf: Die Zukunft des Fernsehens hat bereits begonnen.

 

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Auch wenn das klassische TV noch immer zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen der Österreicher gehört, sind Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon Prime auf dem Vormarsch.

„Ich habe Amazon Prime, das läuft auf meinem Fernseher, dort schaue ich Nachrichten und Filme an. Nachrichten und Shows sehe ich weniger. Normales Fernsehen nutze ich eigentlich nur, wenn ich sonst gar nichts finde.“ - Can Gülmeis (18), Wels, Arbeiter

„Ich schaue über die Internetseite „bs.to“ fern, genauer gesagt Serien auf meinem Laptop, meistens eine Folge zum Einschlafen. Mir gefällt daran, dass ich da keine Werbung habe und schauen kann, wann ich will.“ - Sarah Mair (16) Kursteilnehmerin, Linz

„Wir machen beides. Wir filmen uns auch selbst und stellen das als Live-Stream auf Facebook oder schauen die Streams von anderen an. Außerdem schauen wir Serien auf YouTube.“  - Gashi Murat (18), Aschach, und Ahmet Gültekin (20), Wels, Karosseriebautechniker

„Ich habe seit 16, 17 Jahren keinen Fernseher mehr. Wenn ich unbedingt eine Doku sehen will, gehe ich zu meiner Tochter, aber eigentlich gefällt es mir, dass ich statt des Fernsehens lese, spiele oder früher ins Bett gehe.“ - Karin Anderle (63), Pensionistin, Thalheim