Große Literatur aus dem Chor der Vergessenen
Literaturnobelpreis: Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch (67) wird in diesem Jahr ausgezeichnet.
Sie hat sechs Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibt sie seit fast 40 Jahren an einem einzigen Buch: an der russisch-sowjetischen Chronik. Gestern gab das Nobelkomitee der Akademie der Künste in Stockholm bekannt, dass der mit rund 860.000 Euro dotierte Nobelpreis für Literatur 2015 an die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch geht.
"Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der ,kleine Mensch‘ von sich, das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab", sagte Alexijewitsch vor zwei Jahren bei ihrer Dankesrede, als sie bei der Frankfurter Buchmesse mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.
Flaubert sagte von sich, er sei "ein Mensch der Feder", Alexijewitsch ist ein Mensch des Ohres, ihre Bücher sind Romane aus Stimmen. Aus den individuellen Dramen formt sich die Epoche jüngerer russischer Geschichte.
Urteile fällt der Leser
Auch in ihrem in mehr als 30 Sprachen übersetzten Hauptwerk "Secondhand-Zeit" (2013) hört sie Menschen bloß zu. Jenen, die sich von der Geschichte gedemütigt, betrogen und gefoltert fühlen, weil sie das Scheitern der großen gesellschaftlichen Illusion des Sozialismus miterlebt haben. Nichts davon bewertet sie, Alexijewitsch überlässt es dem Leser, Entscheidungen über Opfer und Täter zu fällen. Das literarisch bedeutsame an diesen Sammlungen von Einzelschicksalen ist das Versammeln der Stimmen zu einem wuchtigen Chor. In "Die Zinkjungen" (1989) befragte sie etwa ehemalige Afghanistan-Kämpfer sowie Mütter gefallener Soldaten und entlarvte auf diese Weise den angeblich heldenhaften Feldzug. 1992 sollte deshalb ein Prozess gegen sie in die Wege geleitet werden, der nur dank ausländischer Intervention verhindert wurde.
Alexijewitsch schreibt auf Russisch, nicht auf Weißrussisch, wofür man sie in ihrer Heimat kritisiert. Ihre Bücher sind dort nur unter der Hand zu bekommen, für Präsident Alexander Lukaschenko ist sie eine "Verräterin". Selten zuvor war eine Literatur-Nobelpreisträgerin derart in der Wirklichkeit verankert, selten war die Auszeichnung ein so eindeutiges politisches Signal.
Journalistin und Lehrerin
Alexijewitsch wurde 1948 im westukrainischen Stanislaw (heute Iwano-Frankowsk) geboren. Sie arbeitete nach einem Journalistik-Studium zunächst bei einer Lokalzeitung sowie als Lehrerin. Da sie im autoritären Regime in Weißrussland kein Gehör fand, lebte sie lange im Ausland. 2011 zog sie trotz ihrer oppositionellen Haltung zurück nach Minsk.
"Die Rekonstruktion des Gefühls, nicht des Ereignisses ist mir wichtig", schreibt sie in "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" (1997). Drei Jahre lang war sie damals unterwegs, notierte Geschichten, befragte Betroffene. Mitarbeiter des Atomkraftwerks und Mediziner, Umsiedler und Rückkehrer, Bauern und Intellektuelle.
Seit Wochen galt Alexijewitsch als Favoritin auf die Auszeichnung. Zwei Stunden vor der Bekanntgabe, soll sie auf Twitter ihre Freude über den Preis formuliert haben, aber der Account war gefälscht. Dem schwedischen TV-Sender SVT sagte sie kurz nach der Verkündung: "Es ist eine Ehre, in einer Reihe mit großen Schriftstellern wie Boris Pasternak zu stehen." Der Preis wird am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, in Stockholm überreicht.