Ein Autor, der mit allen Stimmen experimentiert
Büchner-Preis: Marcel Beyer erhält die wichtigste Literatur-Auszeichnung deutscher Sprache.
Es war schon furios, wie es Marcel Beyer in seinem 1995 veröffentlichten Roman "Flughunde" geschafft hat, über den Führerbunker-Wachmann und Geräuschesammler Hermann Karnau einen bis heute aktuellen Text zu schreiben, der das Dritte Reich und Populismen als Medien- wie akustisches Propaganda-Phänomen entschlüsselt. Der 300-Seiten-Band bedeutete damals den Durchbruch des 1965 in Tailfingen (Baden-Württemberg) geborenen Schriftstellers. Gestern wurde Marcel Beyer die bedeutendste Literatur-Auszeichnung deutscher Sprache, der mit 50.000 Euro dotierte Georg-Büchner-Preis, zuerkannt. Die Ehrung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wird am 5. November in Darmstadt verliehen.
Poetische Mikroskopie
Beyer beherrsche in seinem Werk das epische Panorama ebenso wie die poetische Mikroskopie, heißt es in der Begründung der Akademie. Seine Sprache sei immer auch Erkundung unserer Lebenswelten. Er widme sich in seinen literarischen Recherchen der Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit mit derselben präzisen Hingabe, mit der er die Welten der Tiere und Pflanzen erforsche. Seine Texte seien "kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich".
Beyer lebte in Köln, ehe er 1996 nach Dresden umzog. Er studierte Literaturwissenschaften in Siegen und schloss sein Studium 1992 mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker ab. 1991 debütierte er als Romanautor mit "Das Menschenfleisch", im selben Jahr erschien der Gedichtband "Walkmännin".
In den 90er Jahren arbeitete er als Lektor der Literaturzeitschrift "Konzepte" und veröffentlichte Texte in der Musikzeitschrift "Spex". Seit 2003 schreibt er Libretti für den Komponisten Enno Poppe. In dieser Kooperation entstanden bisher drei Opern ("Interzone", "Arbeit Nahrung Wohnung", "IQ"). Zudem schrieb der mehrfach ausgezeichnete Beyer das Libretto zu Manos Tsangaris’ "Karl May, Raum der Wahrheit".
Zuletzt nahm Beyer zahlreiche Poetikdozenturen wahr. Bis Februar 2016 hielt er die Frankfurter Poetikvorlesung "Das blinde (blindgeweinte) Jahrhundert". Sein bisher letzter Roman "Kaltenburg" erschien 2008 bei Suhrkamp. 2014 legte er seinen Gedichtband "Graphit" vor, eine in zwölf Jahren angewachsene Gedichtsammlung, in der er seine Erforschungen von Sprache, Landschaften und Kulturen fortschreibt. (pg)