Egon Friedell: Das lächelnde Universalgenie
Am 16. März 1938 nahm sich der österreichische Kabarettist, Schauspieler, Kulturphilosoph und Dramatiker aus Angst vor den Nationalsozialisten das Leben
„Der Fortschritt der Menschheit besteht in der Zunahme ihres problematischen Charakters“, sagte Egon Friedell.
Der 1878 in Wien als Egon Friedmann und Sohn eines jüdischen Seidentuchfabrikanten geborene Kulturphilosoph, Kabarettist, Schauspieler, Dramatiker und Essayist nahm sich am Abend des 16. März 1938 das Leben. Als die SA gegen 22 Uhr an seine Wohnungstür in der Gentzgasse 7 im 18. Gemeindebezirk klopfte, um, wie er vermutete, den „Jud Friedell“ abzuholen, sprang er aus dem dritten Stock in den Tod – nicht ohne vorher Passanten zu warnen. Am Vortag hatte Adolf Hitler auf dem Heldenplatz den Eintritt seiner „Heimat in das Deutsche Reich“ verkündet.
Dass es ein Mittwoch war, an dem Friedell starb, weiß man wegen seiner Haushälterin Hermine Schimann. Friedell hatte mit ihr und ihrer Familie zusammengewohnt. Schimanns Tochter Herma rettete den Abreißkalender, der in Friedells Arbeitszimmer hing, vor der Beschlagnahmung – wenig später notierte sie: „Als noch sichtbare Erinnerung an diesen tragischen März 1938 bewahre ich den Kalender dieses Jahres, der in seinem Studierzimmer hing, das vergilbte Blatt trägt das Datum: 16. März 1938.“ Dieser Kalender ist nun Teil der Ausstellung „Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung“ im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (bis 28. April).
Er blieb wegen der Bibliothek
Der damals 60-Jährige wollte nicht fliehen, obwohl ihn seine Freunde gedrängt hatten, er wollte seine Bibliothek nicht aufgeben. „Er besaß über dreitausend Bände, fein säuberlich geordnet und jeder einzelne ist von ihm mit unzähligen Bemerkungen an den Seitenrändern vollgeschrieben“, schreibt Gernot Friedel in einer bemerkenswerten Romanbiographie, erschienen 2003 im Molden Verlag.
Friedell war ein immerfort lächelndes Universalgenie. Kaum einer prägte das künstlerische Leben Wiens in den letzten Jahren der Monarchie und während der Ersten Republik wie er. Schon vor der Jahrhundertwende hatte er sich mit Alfred Polgar der Gruppe um Peter Altenberg angeschlossen, Karl Kraus nannte ihn ein „Sprachwunder“. Seinen Bekanntheitsgrad aus der Kabarettszene erweiterte er als Schauspieler bei Max Reinhardt.
Als gebürtiger Jude konvertierte Friedell 1897 in Berlin zum evangelischen Glauben. Für etliche Zeitschriften arbeitete er als Feuilletonist. Seine dreibändige, in viele Sprachen übersetzte „Kulturgeschichte der Neuzeit“, die ab 1927 erschien, speiste er aus diesen Texten. Die Bände erheben keinen geringeren Anspruch, als die Welt zu erklären, obwohl er bereits zu Beginn des ersten Buches einräumt, dass er keine Wissenschaftlichkeit für sich beanspruche. Friedell kultivierte sich als grandioser Dilettant.
Seine Idee, eine komplette Kulturgeschichte des Altertums zu veröffentlichen, scheiterte am Anschluss Österreichs. Seine „Kulturgeschichte des Alten Orients und Ägyptens“ (1936) musste in Zürich erscheinen, weil in Deutschland seine Bücher bereits verboten waren. Die Kulturgeschichte „Griechenlands“ wurde posthum als Fragment veröffentlicht, weil die Kapitel über die hellenistische Zeit und Rom nur als Entwürfe erhalten sind.
Bernhard Fetz, Andreas Fingernagel, Thomas Leibnitz, Hans Petschar, Michael Pfundner: „Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung“, Residenz, 175 Seiten, 19,90 Euro. Bernhard Viel: „Egon Friedell. Der geniale Dilettant“, C.H. Beck, 352 Seiten, 25,95 Euro.
Egon Friedell (1878–1938)
„Der Fortschritt der Menschheit besteht in der Zunahme ihres problematischen Charakters“
Was würde er wohl heute über die Menschheit sagen?