Die Innenräume eines Architekten

Von Christian Schacherreiter   17.Mai 2018

Die äußeren Ereignisse in Thomas Stangls neuem Roman "Fremde Verwandtschaften" sind nicht besonders spektakulär. Ein Wiener Architekt, Mitte vierzig, verheiratet, Vater von zwei Kindern, reist in ein westafrikanisches Land zu einem Kongress, dessen Thema die Neugestaltung eines Universitäts-Campus ist. Flugreise, Ankunft, Hotel, Taxifahrten durch die Stadt, Fachdiskussionen – und nur selten das Wagnis, in die fremde Stadt und ihre unbekannten Gesetze einzutauchen. Es geht aber nicht vorrangig um das äußere Geschehen, sondern um die Innenwelt des Protagonisten. Derzeit ist kein anderer österreichischer Autor zu nennen, der für diese verschwimmenden Bewusstseinsschichten aus Wahrnehmung, Erinnerung, Imagination und Traum eine derart reiche Sprache kreiert wie Thomas Stangl.

Begrenzte Intimitäten

Während in der Außenwelt der konventionelle Alltag abläuft, erlebt der Architekt Verunsicherung, Entfremdung, sogar Ansätze von Verstörung, ohne dass die anderen Kongressteilnehmer ihm etwas anmerken würden. Am ehesten noch "die Belgierin", mit der er eine merkwürdige Nicht-Beziehung unterhält. Eher zufällig begegnen sie einander bisweilen bei berufsbezogenen Veranstaltungen. Die Intimitäten bleiben auf diese wenigen Stunden begrenzt, andere Kontakte gibt es nicht, und bei diesem Kongress dürfte es überhaupt für beide bei der flüchtigen Erinnerung an vergangene Nähe bleiben, denn der Architekt zieht der Leidenschaft ein stilles Besäufnis mit Zufallsbekanntschaften vor.

Der Blick des Architekten auf andere Kongressteilnehmer, vor allem auf den "Präsidenten", ist distanziert und ironisch. Der Postkolonialismus-Diskurs taucht auf, und es passt gut in diese Zwischenwelt aus Realität und Imagination, dass der Architekt kaum einmal ein Bauvorhaben realisiert, sondern eher im Reich der Ideen unterwegs ist, mehr Künstler als Bautechniker. In der Rolle der Randfigur fühlt er sich wohl. Er ist "jemand, der nicht ganz dazugehört", der aber mitspielt, so wie er auch seine Ehe und die Rolle des Familienvaters nicht in Frage stellt, obwohl auch sie ihn bisweilen befremden.

Die Fremdheit ist der Motivkern des Romans. Als der Architekt allein in der Stadt unterwegs ist, scheint es ihm, als verforme sich der Raum, und gleichzeitig kommt er sich selbst immer merkwürdiger vor. Afrika, die andere soziale Welt, ist einerseits Sehnsuchtsort für zivilisationsmüde Geister, andererseits stellt sich auch der Fluchtreflex ein: Nichts wie zurück in die Sicherheiten Europas! Von einer Bewusstseins- oder gar Persönlichkeitskrise des Architekten zu sprechen, wäre trotzdem irreführend. Seine "Krise" ist der übliche Dauerzustand, die ganz normale Diskrepanz zwischen äußeren Abläufen und innerem Erleben – so wie wir es alle kennen.

Thomas Stangl: "Fremde Verwandtschaften", Roman, Droschl Verlag, 271 Seiten, 22 Euro.

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