Der Nationalsozialismus gehört zu jeder österreichischen Familie

Von Christian Schacherreiter   14.Oktober 2014

Auf den letzten Seiten seines neuen Buchs "Mein Vater, der Deserteur" zitiert René Freund die Frage einer Bekannten, warum er denn ausgerechnet dieses Thema gewählt habe. Seine Antwort: "Um meine Familie kennenzulernen. Um mich selbst besser zu verstehen. Ich glaube, die Generationen der Kinder und der Enkelkinder sind die Ersten, denen bewusst ist, dass der Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich zu jeder Familiengeschichte gehört."

Der Vater des in Grünau im Almtal lebenden Autors war Gerhard Freund, den Älteren noch als "roter" Fernsehdirektor der Jahre 1957 bis 1967 in Erinnerung. 1967 musste er nach dem ORF-Volksbegehren seinen Hut nehmen, war dann Filmproduzent in Deutschland, kam nach Wien zurück, wurde dort Direktor der Festwochen und starb 1979 an einem Aneurysma. Das ist der bekannte Teil von Gerhard Freunds Biografie, den bisher unbekannten erzählt sein Sohn René jetzt in Buchform. Die Grundlage dafür liefert ihm ein unveröffentlichtes Kriegstagebuch seines Vaters. Der 1925 geborene Gerhard Freund war in Frankreich stationiert und entschloss sich im Jahr 1944 zu desertieren. Gemeinsam mit einem älteren Kameraden.

Die Deserteure aus Hitlers Armee wurden nicht nur von deklarierten Nazis als Feiglinge und Verräter diffamiert. Das Dritte Reich sprach wegen Desertion 30.000 Todesurteile aus, ungefähr 15.000 davon wurden vollstreckt.

Außerdem brachten Deserteure nicht nur sich selbst, sondern auch die eigene Familie in Gefahr, die mit Repressalien zu rechnen hatte. Man staunt daher, dass die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich bis Oktober 2009 gedauert hat. René Freund zeichnet nicht nur die Wege nach, die sein Vater nach der Desertion gegangen ist – bis zur amerikanischen Kriegsgefangenschaft.

Er hat mit seiner Familie die Orte bereist, die im Tagebuch erwähnt werden, und ruft die konkreten Schrecken des erbitterten Kampfes in Erinnerung – insbesondere auf den Schlachtfeldern der Normandie, wo die Invasion auch bei den Alliierten einen grauenhaften Blutzoll forderte. Ein Menschenleben zählte damals wenig, hüben wie drüben.

Verantwortung und Versagen

René Freunds Buch ist nicht nur wegen seines historischen Informationsgehalts lesenswert, sondern auch, weil sich der Schriftsteller reflektierend den Kernfragen zum Thema Nationalsozialismus und Krieg stellt. Es sind Fragen nach Verantwortung und Versagen, nach Schuld und Mitschuld, nach Handlungsalternativen, nach Vertuschung, Beschönigung und Umdeutung dieser finstersten Epoche der Neuzeit.

René Freund weiß, dass allzu einfache Antworten die Wahrheit meist verfehlen. Es spricht auch für seine Redlichkeit und sprachliche Reife, dass ihm ein respektvolles Vaterbild ohne pathetische Heroisierung gelingt. Das wäre gewiss im Sinne von Gerhard Freund, der in seinem Kriegstagebuch selbst auf dramatische Überhöhungen verzichtet hat.

René Freund: "Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte". Deuticke, 200 Seiten, 19,50 Euro

OÖN Bewertung: