"Bei der Flüchtlingskrise erleben wir Zynisches"
Der britische Meisterregisseur Ken Loach, 80, über sein neues Arbeiterdrama, soziale Klüfte, die EU und den Brexit.
Er wollte aufhören. Gott sei Dank tat er es nicht, denn Regisseur Ken Loach, mittlerweile 80, hat der Welt wieder einen wunderbaren Film geschenkt. Für "Ich, Daniel Blake" gewann er heuer seine zweite Goldene Palme des Festivals in Cannes.
OÖNachrichten: Früher hatten Sie oft junge Hauptfiguren, in "Ich, Daniel Blake" aber eine in den späten Jahren. Blake wird krank, also sucht er um Sozialhilfe an. Ein Spießrutenlauf startet.
Loach: Ein traumatisches Erlebnis. Aber alles ist so. Ich lasse Daniel im Film sogar die echten Formulare ausfüllen. Hinter der Art von Arbeitsvermittlung, wie sie heute angewendet wird, steckt System und Ideologie. Die Bürokratie überwuchert, Hilflose werden gequält, um sie glauben zu machen, dass sie an ihrer Situation selbst schuld sind. Einen älteren Helden habe ich auch deshalb gewählt, weil diese Generation so gerne "übersehen" wird.
Aus welchen sozialen Verhältnissen kommen Sie selbst?
Mein Vater war eines von zehn Kindern eines Kohleminen-Arbeiters. In meiner Heimatstadt in den Midlands (Zentralengland, Anm.) lebten an die 70.000 Menschen. Nur 60 Buben war 1950 eine höhere Schulbildung möglich, nur sieben kamen an die Uni. Immerhin hatte fast jeder einen Job, der sicher war.
Wer ist Ihrer Meinung nach Schuld an der heutigen Misere?
Die Thatchersche Konterrevolution, dieser aggressive Kapitalismus, hatte Auswirkungen auf alles.
Dazwischen galt Tony Blair aus der Labour Party als Hoffnung, die zur Enttäuschung wurde...
Ich halte Jeremy Corbyn, den neuen Chef der Labour Party, für einen aufrechten Menschen und eine große Hoffnung. Doch das im Film geschilderte System gibt es ja nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa. Das ist eine Aufgabe der EU. Die vertritt leider "Big Business".
Haben Sie viel für "Ich, Daniel Blake" recherchiert?
Im Film ist nichts erfunden. Mein Autor Paul Laverty hat eine Freundin, die bei der Hilfsorganisation "Doorway" arbeite. Sie öffnete uns alle Türen, wir machten viele Interviews und erlebten Erschütterndes, Wut und tiefe Verzweiflung.
Ihre Meinung zum Brexit?
Der Brexit war eine taktische Spielerei der Linken, die leider ins Auge gegangen ist. Ich habe für Europa gestimmt. Und bei der Flüchtlingskrise erleben wir ja ähnlich Zynisches wie bei den "Wohlfahrtsinstitutionen" in "Ich, Daniel Blake". Den armen Teufeln wird eingeredet, sie seien an ihrem Elend selbst schuld. Glauben Sie wirklich, dass so viele Menschen gerne die Heimat verlassen?
Filmkritik zu "Ich, Daniel Blake"
Menschlich in der größten Not: Daniel Blake ist Ende 50 und Tischler. Nachdem der Brite einen Herzinfarkt erlitten hat, muss er vollständig genesen, bevor er wieder arbeiten gehen darf. Blake sucht daher um Sozialhilfe an. Er bekommt sie nicht, weil ihm eine "Gesundheitsdienstleisterin" auf der behördlichen Skala der Arbeitsunfähigkeit nur 12 statt volle 15 Punkte zuschreibt.
Blake, von Stand-up-Comedian Dave Johns mit herzlichem Pragmatismus ausgestattet, bleibt nichts anderes übrig, als sich arbeitslos zu melden, sonst hat er null Einkommen. Schneller als erwartet, bekommt er ein Angebot. Annehmen kann er es aber nicht, weil er sich damit gesundheitlich ruinieren würde ...
Groteskes Dilemma
Was an den Plot einer Folge von "MA 2412" erinnert, ist das aus der Wirklichkeit gefilterte, groteske Dilemma, das Regisseur Ken Loach in "Ich, Daniel Blake" fast dokumentarisch erzählt. Ganz nahe wähnt man sich Blake dabei, den die Bürokratie behindert, der in Armut abgleitet und trotzdem nie Würde und Menschsein aufgeben will. Dabei spürt man Hoffnung, Rührung, Zorn wie Angst. Gefühle, die nicht mit dem Ende verfliegen werden. Zu echt, zu möglich erscheint dieses Schicksal. Ein starker Film, der notwendig ist. (nb)
Ich, Daniel Blake: GB/F/B 2016, 100 Min.
OÖN Bewertung: