Ein Buch wie eine Befreiung

Von Von Eva Allerstorfer   21.Jänner 2011

Von der Mutter verlassen, mit dem älteren Bruder ins katholische Kinderheim in Steyr gesteckt, jahrelang Bettnässer, tief gläubiger Katholik, Einzelgänger: Was Gerhard Petzl in „Nur wer die Nacht kennt, weiß den Tag zu schätzen“, erschienen im Vindobona Verlag, niederschreibt, will kaum jemand gerne hören. Weil nichts so schonungslos ehrlich ist wie die nackte Wahrheit. Er schreibt sich von der Seele, was ihn belastet und verletzt. Und sagt sich dabei los von seiner demütigenden Vergangenheit. Im Gespräch erzählt er, was ihn bewegt, worüber er sich Gedanken macht und warum er niemandem die Schuld für seine Erlebnisse geben kann.

Sie schreiben vom Terror anderer Kinder gegen „den Bettnässer“, von den Schlägen des kirchlichen Personals, von Ihrer verzweifelten Angst vor dem Einschlafen. Aufgefangen haben Sie schließlich die Pfadfinder. Haben Sie Ihre Vergangenheit mit dem Schreiben Ihres Buches zurückgelassen?

Schreiben ist Befreiung für mich. Ich möchte nächsten Generationen etwas hinterlassen, das mahnt. Meine Lebenserfahrung soll als Hilfestellung dienen.

Welche Passage im Buch hat Sie beim Schreibprozess besonders gefordert?

Es ist schwer, eine Episode auszuwählen. Ich musste mich an Dinge erinnern, die ich verdrängt hatte. Ich habe bis vor einigen Jahren mit schweren Depressionen gekämpft. Alles, was nun niedergeschrieben ist, dazu stehe ich. Das ist, was ich zu sagen habe. Manches wird vielleicht für immer verdrängt bleiben. Dann soll es so sein. Es geht mir jetzt gut. Ich bin befreit. Sicher, es hat mich Überwindung gekostet. In meinem Alter habe ich nichts mehr zu verlieren. Jetzt, in der Pension, kann ich meine Erfahrungen mit der Öffentlichkeit teilen. Im Berufsleben wäre das wahrscheinlich nicht sehr geschickt gewesen.

Wie hat sich Ihre Vergangenheit auf die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu führen, ausgewirkt?

Es ist die Kraft des Geistes, die vieles möglich macht. Ich habe gelesen, mich abgekapselt, aber gelernt, auf Menschen zuzugehen. Ich verlasse mich ganz und gar auf meine Partnerin. Das ist mir nie schwergefallen. Alles, was ich erreichen wollte, war eine funktionierende, glückliche Familie. Ich denke, dass ist mir gemeinsam mit meiner Frau gelungen.

Ist Ihre Situation einzigartig, extremer als die anderer?

Ich bin kein Missbrauchsfall. Pädagogische Erziehungsmethoden hat es damals nicht gegeben. Nach dem Krieg lebten zu viele Kinder im Heim. Die Klosterschwestern waren überfordert. Ich gebe ihnen keine Schuld. Auch meine Mutter mache ich letztendlich nicht dafür verantwortlich. Ich weiß zu wenig von ihrem Leben und ihren Entscheidungen. Wir stehen heute in Kontakt, beschränken unsere Themen aber auf die nötigen Dingen im Leben.

Ist es möglich, dass Kinder auch heute noch die gleichen Erfahrungen in Erziehungseinrichtungen machen müssen? Gerade in den letzten Monaten ist viel darüber diskutiert worden.

Ich denke nicht, dass es in unserem medialen Zeitalter noch passieren kann. Die Menschen sind mündiger geworden. Mein Buch war fertig, bevor die Missbrauchsfälle der katholischen Kirche bekannt geworden sind. Ab einem gewissen Alter setzt man sich wieder mit seiner Jugend und der Kindheit auseinander. Da bin ich nicht der Einzige.

Haben Sie sich von der Katholischen Kirche abgewandt?

Keineswegs. Ich fühle mich der katholischen Kirche nach wie vor sehr zugehörig.

Blicken Sie auf ein glückliches bisheriges Leben zurück?

Ich habe viel aus den Erfahrungen in meiner Kindheit gelernt. Auch aus negativen Ereignissen kann man lernen. Meine Frau und ich haben unsere Kinder ohne Gewalt, ohne Druck und trotzdem sehr diszipliniert erzogen. Das braucht aber viel Zeit, um zu diskutieren. Ich bin zufrieden. Meine Kinder stellen die ihren wieder in den Mittelpunkt, genau wie wir es getan haben.

Zur Person

Gerhard Anton Petzl ist 1948 geboren. Er ist verheiratet und Vater dreier erwachsener Töchter. Er arbeitete als Schmuckdesigner, dann als Erzieher in einem Caritas-Jugendheim und als technischer Zeichner. Mehr als drei Jahrzehnte war er als Öffentlichkeitsarbeiter und Pressereferent eines Energieunternehmens tätig. Seit 2006 ist er in Pension und arbeitet weiterhin als freier Journalist.